Sax
schlagen. Die Kraft zur wahren Wende liege in ihm selbst.
Am nächsten Fastendienstag sagte Jacques: Ist er so naiv, oder tut er nur so?
Es war nur eine Probe, sagte Hubert Achermann. – Zur
keynote address
, die er im «Gugger» hält. «Die Werte und ihr Preis».
Genau so klingt es, sagte Jacques. – Kann er sich eigentlich selbst noch hören, wenn er spricht? Biologie und Mystik. So etwas hatten wir doch schon. Alles will Evolution werden, Wirtschaft, Technik, Kultur. Bald sind auch Himmelskörper ein evolutionäres Produkt. Und was am Ende dabei herauskommt, ist lebensunwertes Leben. Wir gehören auch dazu.
Er ist der Reinste von uns, sagte Achermann.
Das kommt erschwerend dazu. Diese Soldaten Gottes! Sie sind mir unheimlicher als Er. Er hat ein Alibi: es gibt Ihn nicht. Aber Moritz vertritt Ihn gleich doppelt und dreifach, und das im Namen des Glücks. Sieh dir seine Engel an, die es uns bringen! Sie lächeln und riechen nach nichts. Da lob’ ich mir Marybels Geister!
Ja, sie wirkten wie die reine Unschuld oder die Kosmetik gewordene Entfremdung, Moritz’ junge Mitarbeiter, vier weiblich, drei männlich, die zwei Etagen mit ihrer volldigitalisierten Tätigkeit besetzten. Ob sie saßen, joggten oder walkten, der Knopf kam ihnen nicht aus dem Ohr und zirpte wie ein Heimchen. Sie schlürften ihre Pizza schon auf der Treppe, und wenn ihre Finger nicht auf der Tastatur klapperten, hoben sie eine PET-Flasche zum Mund. Sie waren an ihrer BWL-Hochschule mit Flip-charts und Powerpoint-Demonstrationen groß und cool geworden. Was sie gelernt hatten: für sowenig Studium wie nötig so viele Punkte wie möglich zu sammeln, im Sinn jener Ökonomie, die ihnen zur zweiten Natur und inzwischen schon zur ersten geworden war. Jacques, der sie nicht verstand, behauptete, sie sammelten Marken ins Büchlein wie seine Urgroßmutter; das Büchlein war virtuell geworden, um so mehr Realität erwartete man vom Rabatt. Gewinn durch Reduktion, das war der Trick. Welt ist Wissen, und es wird immer mehr, da hat man mit dem Aussortieren des Unnützlichen so viel zu tun, daß man zuerst wissen muß, was man nicht zu wissen braucht. Sparsamer Aufwand aber verlangt kanonisches Wissen, damit man auch Zeit gewinnt für seinen Spaß. Ein paarmal im Jahr drangen ihre Happy-Birthday-Gesänge durch alle Böden. Marybel wurde zu ihren Partys eingeladen. Sie war die einzige der Gruftis im Haus, mit der sie auch sonst
normal
kommunizieren konnten, nämlich von Rechner zu Rechner.
Auch in diesem Fall war Marybel, als Frau des Hauses, die
Schnittstelle
, und manchmal tat es immer noch weh. Sie hatte den Mann loslassen müssen, den sie liebte. Dafür war sie im Haus für alles zuständig geworden, von dem sich Männer keine Vorstellungmachen. Sie faßte mit dem Herzen, was man nicht mit Händen greifen kann, seien es Geister oder das
World Wide Web
. Oft starrte sie Tage und Nächte auf den Bildschirm, als wäre er die Kristallkugel der Wahrsagerin.
14
1994. Therese
Die Öffentlichkeit erfuhr von Huberts und Sidonies Eheschließung zum ersten Mal in einem Interview, das ihr Sohn Salomon (22) dem Twen-Magazin «HOT» gab. Marybel hatte es kommentarlos auf das Tischchen mit den gelben Kallas gelegt.
SALI war unter Netzbewohnern eine bekannte Größe. «HOT» besuchte ihn leibhaftig in seiner «Loge» in St. Gallen und zeigte sie im Bild: einen anscheinend leeren Raum, in dem nur ein knallrotes Sofa stand; Salomon stand davor, kahlgeschoren, schmallippig, barfuß, als Judoka mit schwarzem Gürtel, und sah dem Betrachter streng ins Gesicht. Seine Zukunftspläne? Erst das Studium, Ökonometrie. Später Medien. Sein Privatleben? Über fünfhundert Freundinnen und Freunde. Lieblingsmusik? Seine eigene. Wo man sie hören könne? In seinem Netz-Club. Das Verhältnis zu seiner Mutter? Man lerne voneinander. Was lernte die Mutter von ihm? Keine überflüssigen Fragen zu stellen. An der Meinungshoheit der jungen Generation ließ SALI keinen Zweifel. Erziehen könne er sich schon selbst, und der Vater sei ja auch «irgendwo im Boot» gewesen. Neulich hätten die Eltern «sogar geheiratet». Das fand SALI angebracht, «wenn es aufs Alter zugeht».
Die «Geschichte», die dazugehörte, hatte schon das maßgebende Boulevardblatt recherchiert: Sidonie und Hubert hatten 1970 einen
amour fou
erlebt, nachdem er sie als Rechtsanwalt in einer Erbsache gegen ihre Schwester vertreten hatte. Sie hatte ihm die folgende Schwangerschaft verheimlicht, um ihn keinem
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