Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
Interessenkonflikt auszusetzen. Der Unfalltod der Klägerin hatte sie dieserRücksicht enthoben. Aber sie waren getrennt geblieben, weil jeder sein Lebensprojekt nur selbständig glaubte verwirklichen zu können. Jetzt war Sidonie Präsidentin der Gemeinde geworden, in die sie mit neun Jahren als Flüchtling gekommen war, und gönnte sich die Verbindung mit dem eigenwilligen Advokaten.
    Kein Wort über das Thema des unterbliebenen Prozesses; nichts von Fritz Walder. Dabei erschien das große Interview mit der Nationalratskandidatin in ebendem Blatt, das ihr mit einer schwerwiegenden Enthüllung gedroht hatte. Statt bloßgestellt, erschien sie nun für das gesuchte Amt wohlausgestattet, und die Redaktion beglückwünschte sie dazu. Wie hatte sie das fertiggebracht? Es genügte, daß sie die Redaktion wissen ließ: nachdem ihre Heirat, wider Erwarten, Aufsehen erregt habe, habe sie sich, auf Rat von Melchior Schieß, entschlossen, das klärende Interview «WIR» zu geben. Und «WIR» brachte es gleich so aufgemacht, daß der Sonderdruck als Wahlwerbung dienen konnte. Sie kam der Auflage zugute, und Sidonie wurde Teil des «WIR»-Gefühls.
    1990 war ein Gottfried-Keller-Jahr, und Sidonie Wirz hatte «WIR» verraten, daß sie immer «eine begeisterte Leserin des ‹Grünen Heinrich›» gewesen sei. Judith, die starke Frau, sei ihre Lieblingsfigur und ihr Vorbild. Auch sie habe auf ihrer Wanderung Klippen und Abgründe nie gescheut und schließlich, mit dem Jugendfreund vereint, «die Krone des Lebens vom Altar des Vaterlandes genommen». Sie bedaure nur, daß der gealterte Autor auf prüde Ratgeber gehört und die ursprüngliche Nacktszene Judiths getilgt habe. Sinnlichkeit sei nichts, dessen eine Frau sich schämen müsse. Man erfuhr, daß sie im «Bluntschli»-Center diesen Frühling einen Vortragszyklus über den sinnlichen Keller veranstalte, den «mein Mann» maßgeblich mitgestalte.
    Mit seiner Mutter rücke die Vaterländische Partei «in die extreme Mitte», hatte Salomon in einem Blog gespottet, dabei sei die von allen Parteien umworbene Mitte ein PR-Phantom und nichts weiter als der Versuch, «eine Zone der Vermutung», wo sich am meisten Stimmen abschöpfen ließen, als eigenes Revier zu definieren.Dabei spiele es «unterm Strich» keine Rolle, ob man den Tatsachen auf dem rechten oder dem linken Bein hinterherhinke. Auf die Frage, wo diese Tatsachen denn geschaffen würden, sagte der junge Mann: «Im Netz, wo sonst?» Weitere Fotos zeigten ihn an seinem Schaltpult oder, den Kopf zwischen den Händen vergraben, am Schachbrett. Auf einem Bild war er mit seinen Eltern «beim Arbeitslunch» zu sehen. Ein gestandenes Paar sitzt einem jugendlichen Experten gegenüber, der ältere Herr mit gelichtetem Haar und bemühtem Lächeln sieht aus, als hätte er sich aus einem anderen Film ins Bild verirrt.
    Am Sonntag, dem 8. Mai, zum Auftakt des Keller-Zyklus, leuchtete der «Gugger» im vaterländischen Frühlingsglanz. Sidonie führte in der Titelrolle die so gut wie unbekannte «Therese» auf. Achermann hatte den Text so eingerichtet, daß seine Sperrigkeit zu ihrem Recht kam. Man gedachte nicht zu «schauspielern», wie Sidonie im Programmheft vorwarnte. Angezeigt war ein
Vortrag
der besonderen Art. Sidonie würde
alle
Frauenrollen sprechen, Achermann die männlichen nur markieren, am Vortragspult, wo er einführende Worte zu liefern hatte. Eine kleine, doch feine Matinee, zugleich ein Coming-out: ein Paar stellte sich vor, die bekannte Judith präsentierte sich mit ihrem nicht mehr ganz grünen Heinrich einer größeren Öffentlichkeit.
    Das Publikum war hoch besetzt. Zwei Bundesräte und zwei Regierungsräte, vom Staatsschreiber begleitet, gaben sich die Ehre und erwiesen diese auch Schieß, der mit Gattin erschienen war. Natürlich war der Gemeinderat in corpore für seine Präsidentin zur Stelle, auch Fritz Walder fehlte nicht und hatte sogar seine Frau zum Verlassen des Krankenbetts bewegt. Sie war festlich hergerichtet und sah zum Erschrecken hinfällig aus. Jacques hatte sich entschuldigt, um seinem Vater und Mara nicht zu begegnen, aber Moritz war da, auch Tövet aus dem «Fabrikli», und das von Keller so genannte «Stammholz der Nation» war in Scharen aufmarschiert. Drei Fernsehkameras beherrschten die Szene; Salomons kahlerKopf war immer wieder im Bild. Er hatte seine virtuelle Gemeinde mobilisiert, und manche der Avatars begegneten sich zum ersten Mal leibhaftig.
    Zuerst galt die Aufmerksamkeit

Weitere Kostenlose Bücher