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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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unreif auf meinen trockenen Lippen, die nach seinem Munde dürsten!
    Sidonie begann die tragische Arie verhalten und steigerte sie zum Ausbruch:
Ich kann dich nicht mehr lieben, o Herr, wenn ich dich nicht in ihm anbeten darf. Nein, nein, ich kann es nicht, o verzeih mir meine Sünde! Nein verzeih mir sie nicht, ich vermag deine Gnade nicht zu genießen, wenn sie mir nicht aus seinen Augen strahlt und von seinem Munde lächelt.
    So ging es von einem Umschlag der Passion zum nächsten und immer wieder äußersten:
Ich fühle es nun wohl, o Gott, daß ich dich unwissend betrogen habe mit meiner Liebe zu dir. Wie bleich wie matt war jene Innigkeit gegen diese Inbrunst, welche mich jetzt durchlodert! …Wenn ihr das Blut in meinen Adern umkehren und rückwärts treiben könnt – dann will ich mich bessern!
    Sidonie sprach die Töne der Leidenschaft wie Verse, und wer noch nie von einem Dramatiker Keller gehört hatte, mochte ihn für einen ganz großen halten. Dabei sprach sie, manchmal mit der Andeutung eines Lächelns, den Monolog zu Hubert Achermann hin, der damit als Ziel liebevollen Einverständnisses ausgezeichnet war. Und da sie nicht nur die tragische Rolle Thereses sprach, sondern auch diejenigen des unschuldigen Röschens und der Magd Elisabeth, entfaltete sie das ganze Spektrum subtiler Einfühlung. Den letzten Satz Thereses:
Ich lasse meinen besseren und schöneren Teil zurück, und niemand soll sich beklagen!
beantwortete Sebastian Kind mit den vollen Klängen des Liebestods.
    Das Publikum spendete respektvollen Applaus, auch dem Ehemann. Seine Passagen – ob sie der geliebte Bräutigam der Tochter sprach oder der gutmütige Pächter – hatten wie Einwände eines besonnenen Mannes gewirkt, der angesichts des Überschwangs seiner Frau kühlen Kopf bewahrt. Einige erinnerten sich an den Präambel-Prozeß, mit dem sich Achermann einen Namen gemacht hatte. Als Angreifer oder Verteidiger des Allmächtigen? Bei Keller wußte man dies, wenn man Achermann folgte, auch nicht so genau, sicher war nur, daß er Gott nie ganz aus dem Spiel lassen konnte. Schieß hatte sich bei Sidonies schwankhafter Zugabe wiederholt aufs Knie geschlagen:
Bald waren wir so treu verbunden / Und hatten miteinander schon / Das Schweizerheimweh schön erfunden / Als Zeichen jedem Alpensohn, / Die Freiheit wuchs uns unbewußt, / Ein wildes Zweiglein, aus der Brust, / So ging es her, und so erstand / Das Schweizervolk, das Schweizerland.
Die Kameras drehten geräuschlos mit und schwenkten immer wieder auf Schieß, der kein Hehl daraus machte: Sidonie war seine Kandidatin.
    Man setzte sich im Freien zu Tische; die Herrlichkeit der Kulisse ließ sich auch kauend genießen. Aus der Trachtengruppe, die sich am Rand der offenen Terrasse formierte, stieg bereits der eine oder andere Juchzer, bevor sie, während der Brunch serviert wurde, Heimat- und Heimwehlieder anstimmte. Sie wurde vom Vortrag dreier Alphornbläser abgelöst, die ihren langen Rohren zuerst urtümliche,dann auch neutönige Klänge entlockten. Die Kamera ging von Tisch zu Tisch und nahm Salomon ins Visier, der sich zum nahen Bundesjubiläum vernehmen ließ. Die offizielle Schweiz war siebenhundert Jahre alt, und der junge Mann erregte Aufsehen, als er sie zu einem der jüngsten Staaten Europas erklärte, und als Bündnis
geil
, wenn man an Jugoslawien denke. Wolle die EU nicht ebenso auseinanderfallen, müsse sie von der Schweiz etwas lernen. Seine Chatroom-Mates, die einen eigenen Tisch belegten, brachen in Ovationen aus, in denen Zustimmung und Hohn nicht immer zu unterscheiden waren. Sidonie ging zu allen Gruppen, und die Kamera hielt sie besonders gerne in der Gesellschaft des Bundesrats aus dem Berner Oberland fest, eines ehemaligen Spitzensportlers, den das ganze Land beim Vornamen nannte und der wegen seines sonnigen Wesens beliebt war. Auch er gehörte der Partei Schieß’ an, allerdings ohne dessen schroffe Linie zu vertreten. Die Vaterländischen hatten, um die ältere Generation an sich zu binden, ein Sonntagsfrühstück eingeführt, bei dem sich Leute frei verköstigen und Erinnerungen an eine bessere Vergangenheit nachhängen konnten.
    Schieß persönlich hatte den nächsten Keller-Vortrag übernommen, der den Altersroman «Martin Salander» behandeln sollte. Vor seinen Tischgenossen nahm er, heftig gestikulierend oder herzhaft lachend, bereits eine Pointe vorweg: im «Salander» habe sich der alte Staatsschreiber vom damals staatstragenden Freisinn, für den er als

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