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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Schatten seiner selbst und fiel damit vielleicht gar nicht sonderlich auf. Und das war das Unheimlichste.
    Als er wieder zum «Gugger» hinunterlief, hatte er sich gefaßt. Aber Tövet, der zu Fuß hergewandert war, fragte bei der Umarmung: ist dir nicht gut? Inzwischen schlug es vom Kirchturm in der Tiefe elf. Der Saal hatte sich gesetzt, Sidonie zwischen Bundesräten in der ersten Reihe. Sebastian Kind griff in die Tasten, dann erhob sich die starke Altstimme der kleinwüchsigen Carolin Speck, deren grauer Lockenkopf in der schwarzen Bucht des Flügels gerade noch sichtbar war. Aber wenn man die Augen schloß, konnte man die Stimme einer großen Passion hören, auch wenn sie durch einen traurigen Schalk gedämpft war:
Du milchjunger Knabe,
Wie schaust du mich an?
Was haben deine Augen
Für eine Frage getan!
    Alle Ratsherrn in der Stadt
Und alle Weisen der Welt
Bleiben stumm auf die Frage,
Die deine Augen gestellt!
    Eine Meermuschel liegt
Auf dem Schrank meiner Bas’ –
Da halte dein Ohr d’ran,
Dann hörst du etwas!
    Die Bühne war leer geblieben; nun stieg Hubert Achermann hinauf und sagte:
    «Brahms, Opus 86 Nr. 1. Er hat die erste Fassung des Gedichts vertont. Sie ist 1846 entstanden und steht – unter dem Titel ‹Therese› – in einem kleinen Zyklus, betitelt ‹Von Weibern›, mit dem Untertitel ‹Alte Lieder›. Keller hat sie nach dem Abschied von einer Liebe geschrieben, Marie Melos, die unverheiratet geblieben ist wie er selbst.
    Herren Bundesräte, Herren Regierungsräte –», fuhr er fort, und die protokollarische Begrüßung beanspruchte soviel Zeit wie das Brahms-Lied, wobei er nicht versäumte, jedem Angesprochenen ins Gesicht zu sehen.
    «Einem interessierten Literaten hat Keller die Absicht des Zyklus wie folgt erklärt: ‹Ich wollte in dieser Liederreihe ursprünglich die auf- und absteigende Liebe eines jungen Mannes zu einer voll erblühten verwöhnten Schönheit schildern. Anfangs weist sie den grünen Anbeter schnöde ab, später aber, als sie einen Zahn verliert und auch sonst älter zu werden merkt, will sie ihn mit allen Mitteln wieder erobern. Doch es ist schon zu spät.›
    Der Briefwechsel mit der genannten Marie Melos setzt erst dreißig Jahre später ein, als beide sich den Sechzigern nähern. ‹Fast alles ist tot aus jener Zeit›, schreibt er ihr, und: ‹Es geht uns allen mehr oder minder so, mein liebes Fräulein; erst wenn wir gegangen sind, läßt man uns gelten und bedauert uns.›
    Therese hieß auch die Titelheldin eines Dramas, mit dem er sein Glück machen wollte, nachdem er als Maler gescheitert war. Sie hat mit der Therese des Brahms-Liedes nur den Namen gemein – das ist vielleicht nicht wenig. Aber sonst ist sie eine andere Person: eine wohlhabende Witwe aus frommem Milieu, die ein entsprechendes Gewissen mit sich schleppt. Dieses Gewissen wird im Keller-Stück schwer geprüft. Die nach damaliger Vorstellung mit siebenunddreißig Jahren gealterte Frau verliebt sich mit aller Macht ihrer Seele in den Bräutigam ihrer Tochter.
    So viel zum Thema, das Sidonie und ich – aber vor allem Sidonie– in einer szenischen Lesung vorstellen. Sein Glück hat er nicht damit gemacht, es blieb gut versteckt, aber halten Sie Ihr Ohr dran, ‹dann hört ihr etwas›.»
    Er blieb an seinem Pult und las die Männerrollen vom Blatt, das dienende Echo auf den Exzeß passionierter Weiblichkeit. Denn Sidonie
spielte
ihren Text so, daß jeder merken mußte, daß sie vom Theater herkam; daß sie es verlassen hatte, deutete sie durch einen ebenfalls gut gespielten Mangel an Bühnendeutsch an. Sie trug ein in der Taille enggeschnürtes Seidenkleid, das an eine Dame des Biedermeier erinnerte. Das Ende einer Szene markierte Sebastian Kind jeweils durch eine Tonfolge, in der Isoldes Liebestod anklang.
    O du unbarmherzige Nacht, wie folterst du mich! Schläft denn Gott auch, daß diese dunkle Zeit, die keines Menschen Freund ist, so viel Macht haben kann über mein armes Herz? Gibt es keine Religion mehr für mich, wenn die Sonne untergegangen und die letzte Lampe ausgelöscht ist? Alle Fenster sind dunkel, wie süß schlummernde Augen, jede Not ruht, die ich sonst mit selbstzufriedenem Gemüte gelindert habe, nur ich bin wach und elend! Verlassen und einsam in meiner sündhaften Glut! Wo seid ihr, stille, glückselige Gebete, ihr zarten verwöhnten Kinder meiner Seele? Alle geflohen! Und wenn Eines sich noch aus meinem Herzen ringt, so beginnt es unter elenden Seufzern und verwelkt

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