Sayuri
das auf der anderen Seite am Tor stand. Es streckte der Wache die offene Hand entgegen und sah den Soldaten bittend an. Ihre Wangen waren elfenbeinfarben, ihre blassen Augen groß vor Sorge.
Mit zwei kräftigen Stößen hatte Marje das Boot so nah ans Tor gelenkt, wie sie konnte. Sie griff in ihren Geldbeutel und holte eine Handvoll Münzen heraus. Seit gestern war der Preis schon wieder gestiegen.
»Lasst das Mädchen passieren«, bat sie den Soldaten und warf ihm das Geld zu.
Das blasse Mädchen huschte an dem Wächter vorbei, der die Münzen geschickt auffing und sofort auf Echtheit überprüfte, und sprang zu ihr ins Boot. Mit scheuem Blick sah sie zu Marje auf. Ein kaum merkliches Lächeln zeigte sich auf ihren schmalen Lippen und ließ die blassblauen Augen aufleuchten.
»Die Preise steigen irgendwann ins Endlose«, murmelte Marje mit einem verärgerten Blick auf den Soldaten, dann stieß sie das Boot vom Ufer ab und lenkte es aus dem Trubel am Tor. »Warum konntest du nicht zahlen?«
Das Mädchen hob eine Hand, in der einige Münzen lagen. Scheinbar hatte sie mit dem gleichen Wegezoll wie noch am Vortag gerechnet.
»Hast du Kräuter ausgeliefert, Sayuri?«, fragte Marje weiter, während sie das Boot in eine schmale Wasserstraße abseits des Getümmels lenkte.
Das Mädchen nickte. Sein Blick glitt über das Wasser, auf dem die Sonnenstrahlen tanzten. Vorsichtig beugte es sich über den Rand des Bootes und tauchte seine Finger in das kühle Nass. Der Fluss umspülte seine Hand und schäumte leicht. Es schöpfte eine Handvoll Wasser und ließ es im Sonnenlicht zurück in den Shanu fallen.
Marje beobachtete, wie Sayuri ganz in sich und den Fluss versunken auf der Bank im Boot saß. Der Wind strich ihr die fast weißen Strähnen, die unter ihrem Kopftuch hervorlugten, aus dem Gesicht.
Sie war die einzige Liganerin, mit der Marje befreundet war – obwohl es ihr eigentlich fast unpassend erschien, sie als Liganerin zu bezeichnen. Sicher, Sayuri lebte in der alten Stadt. Aber das war auch alles.
Sayuri war – eben Sayuri.
Mit gleichmäßigen Bewegungen dirigierte Marje das Boot in die Straße, in der Sayuris Kräuterladen in einem alten, ehemals herrschaftlichen Haus untergebracht war, das inzwischen einiges an Pracht eingebüßt hatte.
Gekonnt brachte sie das Boot vor Sayuris Laden zum Stillstand und half ihr auszusteigen.
Mit einem fragenden Blick sah das Mädchen erst zu ihr, dann zum Laden. Aber Marje schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich muss wieder zur Arbeit«, sagte sie.
Das Mädchen griff nach ihrer Hand.
Wider besseres Wissen ließ sich Marje von ihrer Freundin an Land ziehen. Es fühlte sich so an, als hätte sie Sayuri schon immer gekannt. Sie konnte sich nicht mehr entsinnen, dem blassen Mädchen einmal vorgestellt worden zu sein. Allerdings konnte sie sie erst kennen, seit sie selbst in der Stadt lebte, denn nach Marjes Wissen war Sayuri hier geboren. Sayuri selbst schwieg dazu, so wie sie zu allem schwieg.
Vielen Menschen machte die Stille Angst, die das weißhaarige Mädchen umgab, manche hielten sie sogar für einfältig. Aber die meisten akzeptierten sie, als wäre Sayuri ein Teil dieser Stadt. Und selbst die, die sich vor ihr fürchteten, kamen zu ihr, um ihre Medizin zu kaufen oder Hilfe zu erbitten.
Marje seufzte, als Sayuri sie zur Tür ihres kleinen Ladens zog, sie entriegelte und sie mit einer Geste einlud einzutreten.
»Ich hab wirklich nicht viel Zeit«, warnte sie.
Sayuri lächelte und zuckte leicht mit den Schultern. Sie ließ die Tür offen und zog die Vorhänge auf, sodass Tshanils Licht in den Laden, auf die hohen Regale und deren kostbaren Inhalt fiel.
Der Laden war sehr klein und schmal. Die Regale reichten bis unter die Decke und selbst über den Fenstern und Türen waren Bretter angebracht. In der Mitte des länglichen Raumes stand ebenfalls ein Regal, das den Raum in zwei Hälften teilte und bis unter die Decke reichte. Am anderen Ende des Raumes stand ein kleiner Tresen, zu dem ein paar Stufen hinaufführten. Dahinter schloss sich ein Treppenhaus an, das zu Sayuris Wohnung führte.
Die Regale waren angefüllt mit Kräutern und Gewürzsäcken, Dosen und Schachteln, wertvollen Steinen, Glücksbringern und Schutzsiegeln, Statuen von Göttern und ihren Gestirnen. Von der Decke hingen Blumen und Wurzeln zum Trocknen zwischen Netzen aus Algen, bunten Tüchern und geflochtenen Bändern und auf dem Boden stapelten sich Säcke mit Körnern und Mehl.
Sayuri stieg die
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