Sayuri
dem anderer Wesen mischte. Das ist auch der Grund, weshalb viele Angehörige dieses Volkes magische Fertigkeiten besitzen. Doch du bist anders. Du entstammst dem Geschlecht der Menschen.«
»Welcher Familie?«, fragte Sayuri gespannt.
Die riesige Katze lachte leise. »Kannst du dir diese Frage nicht selbst beantworten?«
Sayuri dachte angestrengt nach, als ihr plötzlich die Geschichten ihrer Mutter einfielen. Der Kaiser, so erzählte sie ihrer kleinen Tochter damals, behüte die Quelle im Palast und sorge dafür, dass sein Volk niemals Durst zu leiden habe. Er wache über die Quelle, während sein Bruder für ihn vor das Volk trat.
Sayuri lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Die Kaiserfamilie?«, fragte sie leise. »Ich stamme von der Kaiserfamilie ab?«
»Du bist die Tochter des Kaisers. Nur über ihn konntest du dieses Erbe erlangen.«
Ungläubig schüttelte Sayuri den Kopf. »Meine Mutter war eine Kräuterfrau, eine ganz normale Bürgerin …«
Der Alte unterbrach sie seufzend. »Ich sage dir, was du wissen musst. Aber es gibt Dinge, die zu verstehen es noch nicht an der Zeit ist.«
Sayuri wollte protestieren, doch die Katze schüttelte entschieden den Kopf. »Der Kaiser lebt, bis er entscheidet, dass es an der Zeit ist, zu sterben. Wenn sein Erbe seine Nachfolge antritt, bekommt er die Fähigkeit übertragen, die Magie der Welt zu nutzen. Er gebietet über das Wasser und kann damit Leben schaffen, aber auch zerstören. Es ist die Aufgabe des Kaisers, seinen Erben darauf vorzubereiten. Deine Aufgabe ist keine leichte und mit großer Verantwortung verbunden. Der Kaiser hatte keine Zeit, dich darauf vorzubereiten. Du wirst selbst lernen müssen, mit deiner Macht umzugehen.«
»Aber warum sinkt der Wasserspiegel? Und warum habe ich bereits jetzt diese Fähigkeit, Wasser zu schaffen? Der Kaiser lebt doch noch … oder?« Sayuris Stimme zitterte. Die Worte der Katze kamen ihr vor wie ein seltsamer, verwirrender Traum.
»Sobald der Kaiser entscheidet, dass seine Zeit gekommen ist, beginnt er, alt und schwach zu werden. Dann bleiben ihm nur noch wenige Wochen, in denen sein Erbe immer stärker wird, er selbst jedoch immer schwächer. In dieser Zeit lehrt er seinen Nachfolger alles, was dieser wissen muss. Allerdings kann ein Nachkomme das Erbe erst antreten, wenn er dem Kindesalter entwachsen ist. In den Wochen, in denen die Kräfte übergeben werden, ist die Macht beider zusammen schwächer.« Die riesige Katze seufzte. »Der Kaiser hat schon vor langer Zeit beschlossen, dass seine Zeit gekommen ist. Er ist der Welt müde geworden. Nun bist du alt genug, sein Erbe anzutreten. Die Quelle lebt von der Magie des Kaisers und er von ihr. Beide können ohneeinander nicht existieren. Doch während die Macht auf dich überging, hast du dich so weit von der Stadt entfernt, dass die Quelle der Magie keinen Einfluss mehr auf dich hatte. Der Prozess ist unterbrochen worden.«
»Aber das setzt voraus, dass der Kaiser beschlossen hat, sein Leben zu beenden«, unterbrach Sayuri. »Wieso?«
»Die Entscheidungen von Menschen kannst du nur nachvollziehen, wenn du sie selbst nach ihren Beweggründen fragst«, antwortete der Alte lächelnd, ehe ein ernster Ausdruck in seine großen Augen trat. »Ich weiß, dass das, was ich dir erzähle, eine große Bürde für dich ist. Du kanntest deine wahre Herkunft bisher nicht. Aber du musst dein Schicksal kennen, um es erfüllen zu können. Dein Vater kann dich nichts mehr lehren. Er ist ein schwacher Mensch und es gibt Kräfte in der Stadt, die um jeden Preis verhindern wollen, dass die Macht auf dich übergeht.«
Sayuri senkte den Blick. Die Sätze des Alten schwirrten in ihrem Kopf herum und ließen sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Doch ein Satz kehrte immer wieder: Du bist die Tochter des Kaisers, hatte die Riesenkatze zu ihr gesagt. Des Kaisers! Aber warum war sie dann nicht im Palast aufgewachsen? Was war mit ihrer Mutter? Fragend hob sie ihren Blick, doch das mächtige Tier schüttelte nur leicht den Kopf. »Irgendwann wirst du es verstehen. Du hast viel Zeit, wenn du zurückkehrst und dein Erbe antrittst.«
Sayuri konnte noch immer nicht erfassen, was dies alles bedeutete. »Was ist, wenn ich nicht zurückkehre?«, fragte sie leise. Unwillkürlich hatte sie wieder die Bilder vor Augen, wie die Sechzehnjährigen von den Soldaten erbarmungslos aus der Stadt gejagt worden waren.
Langsam hob die riesige Katze den Kopf und sah sie aus so tiefgründigen Augen an, dass
Weitere Kostenlose Bücher