Sayuri
Sayuri das Gefühl hatte, in ihnen versinken zu können. Der gesamte Sternenhimmel schien sich in ihnen zu spiegeln.
»Dann wird der Kaiser weiterleben. Aber du – du wirst dein Leben dafür lassen. Er wird von Neuem erstarken, während du stirbst, und nichts wird sich verändern. Ein nächster Erbe wird ihm geboren werden, einer, der eines Tages an die Stelle des Kaisers treten kann. Bis dahin wird der Kaiser unsterblich sein. So will es der Lauf der Dinge.«
Sayuri dachte an Kiyoshi. Er war Miros Erbe. Warum überträgt der Kaiser seine Kräfte nicht auf ihn?
Sie hatte es nicht als Frage gestellt, doch das riesige Wesen antworte ihr trotzdem. »Weil Kiyoshi nicht sein direkter Nachkomme ist. Es können Generationen übersprungen werden, wenn der Kaiser seine Macht nicht abgeben will, aber sein Erbe muss immer ein direkter Nachkomme sein.«
Sayuri nickte langsam. »Wenn ich nicht zurückkehre, dann bleibt also alles beim Alten«, sagte sie tonlos.
Die Katze sah sie ernst an. »Die Macht des Kaisers ist so gewaltig, dass er die Wüste wieder mit Flüssen durchziehen und der Natur einen Weg zurück in die Ödnis schaffen könnte. Aber er tut es nicht. Seit sechzehn Jahren liegt das Land brach. Viele glauben, es sei eine Folge der Kriege, die zwischen Shaouran und Menschen ausgetragen wurden, und vielleicht haben sie mit dieser Vermutung recht. Aber bedenke, dass dort, wo die Shaouran leben, die Berge bewaldet und weite Ebenen mit blühenden Wiesen bedeckt sind. Würdest du in die Stadt zurückkehren und das Erbe antreten, könntest auch du so eine Welt erschaffen.« Die Katze senkte ihren Kopf und Sayuri konnte ihre Schnurrhaare spüren, die über ihre Wange streiften. »Überlege gut, doch die Zeit ist begrenzt. Die Quelle dieser Oase erstirbt bereits. Ist sie nicht mehr, kannst auch du hier keine Zuflucht mehr nehmen.«
Sayuri schloss für einen Moment die Augen. »Es ist meine freie Entscheidung?«
Die Raubkatze nickte und ihr Blick schweifte in die Ferne. »Entscheide dich weise und habe keine Angst. Deine Freunde werden nicht vor der Morgendämmerung hier eintreffen. Nutze die Zeit, die dir bleibt.«
Der Gedanke, Kaiserin zu werden, überstieg Sayuris Vorstellungskraft. Sie spürte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte, und Hilfe suchend sah sie das mächtige Tier an. Doch die Raubkatze hatte den Kopf auf die Pfoten gebettet und die Augen geschlossen. Ein Ohr hatte sie wachsam aufgestellt.
Sayuri holte tief Luft und erhob sich schließlich, um zu dem kleinen Quellsee zu laufen. Er war inzwischen kaum mehr als eine Pfütze. Die Katze hatte recht, sie nahm der Quelle ihre Kraft.
Am Ufer ließ sie sich ins Gras sinken. Zärtlich glitten ihre Hände über die Grashalme, die sie umgaben. Sie hatte ihren Garten geliebt, hatte sich über ihre Fähigkeit gefreut, ihn an einem so unwirtlichen Ort gedeihen zu lassen. Sie hatte auch die Menschen geliebt und ihnen mit ihren Kräutern und Pflanzen geholfen, wo sie konnte.
Wenn ich geahnt hätte, was das bedeutet …
Am östlichen Horizont war der erste Schimmer des heraufziehenden Morgens zu sehen. Sayuri musste eine Entscheidung treffen. Was hab ich mir immer gewünscht?, fragte sie sich mit einem sehnsüchtigen Blick nach Westen, wo der Himmel noch dunkel war. »Ich wollte sprechen können«, flüsterte sie leise den Pflanzen zu.
Am Himmel über der Oase schwebte Shio wie ein Stern über ihr.
2. Kapitel
K iyoshi wurde unsanft wach gerüttelt. Er spürte jeden Knochen im Körper. Stöhnend öffnete er die Augen und murmelte einen leisen Fluch.
»Was sagst du?« Der kleine Thesu beugte sich über ihn.
»Nichts!« Kiyoshi grinste schief.
»Der Prinz führt Selbstgespräche«, stellte der Junge lachend fest. Er hockte sich neben Kiyoshi auf den Boden.
»Die Zentauren wollen dich sprechen«, informierte er ihn.
Kiyoshi ließ seinen Blick durch den offenen Zelteingang unschlüssig über das Lager schweifen. Zwei Tage waren vergangen und noch immer fehlte jede Spur von Sayuri oder Marje. Während die Zentauren ruhig blieben, machte er sich inzwischen ernsthaft Sorgen.
Das Wasser, das die Mine geflutet hatte, war noch am gleichen Abend versickert, bis nur noch ein kleiner Teich in einer Ecke des Lagers zurückgeblieben war. Mithilfe der Zentauren hatten sie im ehemaligen Arbeitslager aus den Trümmern der Baracken und Schmieden notdürftig eine Handvoll Zelte und kleine Hütten errichtet. Die meisten der Überlebenden hatten inzwischen ein Dach über dem
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