Sayuri
Sayuri zur Quelle. Gierig trank sie das kühle Wasser und griff nach kurzem Zögern auch zu den Früchten, die an den Sträuchern hingen. Nachdem sie einige der süßen Früchte gegessen hatte, spürte sie, wie langsam die Energie in ihren Körper zurückkehrte.
Ein kleines Licht sank zu ihr hinab. Shio!, rief sie in Gedanken aus und formte mit den Händen eine Schale, in der das Irrlicht sich niederließ. Leise sirrend erzählte es ihr, welch große Sorgen es sich gemacht hatte. Sayuri lächelte und wärmte ihre Finger an dem warmen Licht, bis Shio sich wieder in den Nachthimmel erhob. Er wollte nach Marje und ihren Freunden Ausschau halten.
Plötzlich war Sayuri ganz seltsam zumute – sie war so lebendig und wach wie noch nie in ihrem Leben zuvor. All die Erschöpfung und die Müdigkeit waren mit einem Schlag von ihr gewichen und ihre Sinne waren geschärft.
Noch einmal sah sie sich um. Die Oase war so klein, dass das riesige Tier mit einem Satz über sie hätte hinwegspringen können. Sayuri spürte, wie sehr sie die intensiven Farben der Blumen vermisst hatte. Und obwohl es schon dunkel war, konnte sie erkennen, wie die Blumen ihre Kelche ihr zugewandt hatten und ihr zunickten.
Sayuri trank noch einmal, dann kehrte sie mit langsamen Schritten zu dem riesigen Geschöpf zurück. Angst hatte sie keine mehr. Stattdessen war sie von Neugierde erfüllt.
Am Rande der Oase ließ sie sich vor dem gewaltigen Kopf ins Gras sinken. Die dunklen Augen musterten sie, ohne dass das Wesen etwas sagte. Die riesigen Pranken waren weiß, genauso wie die Hinterläufe. Der Leib der Raubkatze war von dichtem schwarzem Fell bedeckt, ebenso wie der ganze Kopf. Die weißen Schnurrbarthaare leuchteten hell im Mondlicht.
Wer … Was bist du?, fragte sie schließlich.
Das Wesen schwieg lange, ehe es mit seiner grollenden Stimme schließlich das Wort ergriff. »Ich bin einer der Alten. Mich gab es bereits, als die Götter die Welt erschufen und auf ihr wanderten. Ich war da, als die Meere sich zurückzogen. Ich habe Kriege gesehen und beobachtet, wie Völker Frieden schlossen, Grenzen verschoben wurden und neue Reiche entstanden, nur um wieder in sich zusammenzufallen. Ich bin alt. Sehr alt. Aber was ich bin, diese Frage kann ich dir nicht beantworten.«
Sayuri schaute in die Augen, die so groß wie ihr eigenes Gesicht sein mochten. Der Alte musste älter sein als die Götter. Aber wie konnte er existieren, wenn die Götter doch erst alles erschaffen hatten? Es schien keinen Sinn zu ergeben.
»Manche nennen mich die Quelle allen Wissens, denn ich habe alles gesehen und die Sterne beobachtet. Ich weiß, was geschehen ist, was geschieht und was geschehen wird.«
Dann kannst du mir auch sagen, wo meine Freundin Marje ist?, fragte sie.
»Sie wird bald hier sein«, antwortete das Geschöpf ruhig. »Aber nun habe ich auch eine Frage an dich. Weißt denn du, wer du bist?«
Sayuri lachte stumm auf. Ich bin ein Mensch, antwortete sie.
»Wärst du nur ein Mensch, wäre ich nicht hier«, widersprach das Geschöpf. »Schließe deine Augen.«
Ohne zu zögern, gehorchte Sayuri. Sie vertraute diesem Wesen bedingungslos, es war etwas, das aus ihrem tiefsten Innersten kam.
»Nun sag mir, was du bist.«
Ich bin …
»Nein, sag es nicht mit Worten. Kannst du das Rascheln der Blätter im Wind hören? Hörst du das Plätschern der Quelle? Die Musik der Blumen? Sie sprechen zu dir und zu mir, ohne dass sie Worte dafür benutzen müssen. Horche in die Welt und antworte ihr. Was bist du?«
»Ich bin …« Sayuri brach ab und riss die Augen auf. Ich habe gesprochen, rief sie verwirrt.
Die Raubkatze lachte leise grollend. »Du hast gesprochen«, sagte sie, »weil du mehr bist als ein Mensch.«
»Weshalb kann ich das?« Sayuri lauschte ihren eigenen Worten. »Woher kommt das?«
Es war eine ganz andere Art des Sprechens als die, die sie von Suieen gelernt hatte. Bei ihm hatte sie ihren Worten, die sie in Gedanken bereits geformt hatte, nur mithilfe ihrer Kräfte Ausdruck verliehen. Jetzt allerdings schien etwas aus ihr heraus zu sprechen.
»Versuch, die Worte zu spüren, dann wirst du verstehen.«
Sayuri schloss wieder die Augen, um sich nicht ablenken zu lassen. »Ich bin Sayuri«, wiederholte sie langsam und fühlte die Worte wie einen angenehm warmen Windhauch auf ihrer Haut, wie ein Vibrieren der Luft. Stumm nickte sie, obwohl sie es nicht wirklich verstand.
»Doch was du bist, das kannst du mir ebenso wenig beantworten, wie ich es dir sagen
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