Sayuri
gewesen.
Uns schützt ihr nicht! Uns Taller lasst ihr verrecken!
Über die Taller hatte Kiyoshi sich wenig Gedanken gemacht, vielleicht zu wenig, wie er jetzt zugab. Sie wohnten in dem Teil der Stadt, die außerhalb der alten Festungsmauern über Jahre erbaut worden war. Wäre der Krieg nicht dazwischengekommen, hätte es vermutlich keine Trennung zwischen außen und innen gegeben. Aber nach den Kämpfen war der äußere Kreis völlig verwaist gewesen. Zu viele Menschen waren im Kampf gefallen und wer überlebt hatte, suchte sich eine der verlassenen Wohnungen im inneren Kreis.
In den folgenden Jahren hatten immer mehr Flüchtlinge aus der Wüste die Viertel der neuen Stadt zu ihrer Heimat gemacht. Für die Bauern, die außerhalb lebten, waren sie zwar Bürger der Stadt, da die große Stadtmauer auch die äußeren Viertel umschloss. Für die Bewohner der alten Stadt zählten sie jedoch nicht wirklich. Nach dem, was man über sie hörte, waren sie allesamt Gesetzesbrecher, Abschaum, Taugenichtse. Wenn sie wirklich zur Stadt gehörten, dann würde Shanu, der breite Strom, auch durch den äußeren Kreis fließen, das glaubte man im Palast und unter den Liganern.
Kiyoshi legte sich vorsichtig auf die Seite. Wenn er ehrlich war, hatte auch er das geglaubt. Aber woher nahm er eigentlich diese Überzeugung?
Im Grunde genommen hatte er keine Ahnung, wie die Taller lebten. Die Mitglieder des Palastes blieben für sich, schon immer war das so gewesen. Auch Kiyoshi war streng behütet im Schutz der Mauern aufgewachsen.
Kiyoshis Vater war im Krieg gefallen, kurz vor seiner Geburt. Er war der jüngste Bruder des Kaisers und Miros gewesen. Seinen Namen im Mund zu führen, war im Palast mit den strengsten Strafen belegt. Zu viel Leid hing an diesen Erinnerungen, so fertigte Miro seinen Neffen jedes Mal unwirsch ab, wenn Kiyoshi wieder einmal den Mut gefasst hatte und nach seinem Vater fragte.
Obwohl er sowohl der Neffe des Kaisers als auch Miros war, hatte Kiyoshi den Kaiser in seinem Leben vielleicht ein Dutzend Mal zu Gesicht bekommen. Der Herrscher war kinderlos geblieben und trat nie in die Öffentlichkeit. Miro war es, der die Stadt regierte – in des Kaisers Namen. Und so hatte er auch für Kiyoshi die Vormundschaft übernommen. Einst würde er von Miro die Herrschaft über die Stadt erben. In diesem Wissen war er aufgewachsen und so wurde Kiyoshi von allen Angehörigen des Palastes behandelt.
Als Prinz mangelte es ihm an nichts. Seine Spielkameraden waren die Kinder der höherrangigen Soldaten der Stadtwache gewesen – und mit Rajar zusammen hatte er schließlich die beste Ausbildung genossen, die die Stadt bieten konnte.
Er hätte allen Göttern für die Gnade seiner Geburt danken müssen und doch war er in den letzten Jahren immer unzufriedener geworden. Er hatte sich eingesperrt gefühlt, gelangweilt von dem immer gleichen Leben im Palast. Vor allem das war der Grund gewesen, den Dienst bei der Stadtwache aufzunehmen.
Der Kaiserbruder hatte zunächst wenig davon gehalten, dass der Neffe des Kaisers und der künftige Herrscher der Stadt auf den Straßen Wache schieben wollte – und sei es auch nur in der Sicherheit des inneren Kreises.
Zu gefährlich. Zu riskant. Das waren seine Worte gewesen.
Aber dann hatte er doch nachgegeben. Unter der Auflage, dass Kiyoshi nie seinen Fuß in die neue Stadt setzte.
Kiyoshi seufzte. Nach der Geschichte gestern Abend musste er zugeben, dass Miro vielleicht nicht ganz unrecht mit seinen Sorgen gehabt hatte. Aber war die Gefahr nicht gerade das, was er so vermisst hatte? Dass etwas passierte, dass er mit dem richtigen Leben in Kontakt trat? Hatte er nicht deswegen so dafür gekämpft, in der Stadtwache zu dienen? Er war es leid gewesen, immer nur davon erzählt zu bekommen, was draußen geschah! Er wollte sich ein eigenes Bild machen, wollte nicht länger in einem goldenen Käfig eingesperrt sein! Was hatte ein Volk von einem Herrscher, der es nicht einmal kannte?
So viel Wissen hatte man ihm in all den Jahren im Palast eingetrichtert. Die Details über den Krieg, über den Aufstieg der Stadt, über die Erfolge des Kaisers und schließlich über seine Niederlage in der letzten entscheidenden Schlacht. Er wusste, wie viele Soldaten in den Krieg gezogen waren und wie viele vom Kaiser später für ihre Leistungen ausgezeichnet worden waren.
Aber er hatte keine Ahnung, wie viele Menschen wegen des Krieges fliehen mussten, wie viele Bauernfamilien ihre Höfe verlassen hatten,
Weitere Kostenlose Bücher