Sayuri
sagte er rasch.
Doch sein Onkel schüttelte nur den Kopf. »Ich bin nicht wegen der gestrigen Ereignisse hier. Darum kümmert sich Hauptmann Binor.«
Kiyoshi nickte. Der Hauptmann war Rajars Vater.
Miro zog sich einen Stuhl heran. Seine Miene war ernst, seine schmalen Züge zeigten nicht den Anflug eines Lächelns.
»Ist etwas passiert?«, fragte Kiyoshi alarmiert. Etwas an seinem Onkel war anders als sonst, aber er konnte nicht recht sagen, was es war.
»Nein, Kiyoshi, es ist nichts passiert«, erwiderte Miro, doch seine Stimme strafte seine Worte Lügen. »Aber es kündigen sich Ereignisse an, die uns große Sorgen bereiten. Und es ist an der Zeit, dass ich dich als meinen Erben einweihe.«
Er hob seinen Blick zum Fenster und begann zu sprechen. Und je länger seine Rede dauerte, desto größer wurde das Entsetzen, das sich in Kiyoshi ausbreitete.
4. Kapitel
M it einem leisen Klicken schloss sich die Ladentür hinter Sayuri und das Mädchen mit den weißen Haaren trat auf die Straße ans Ufer Shanus, die sich jetzt in den letzten Abendstunden immer mehr bevölkerte. Ein sanfter Wind kräuselte die Wasseroberfläche des Flusses und verzerrte die Abbilder der Sterne, die inzwischen strahlend hell am Himmel standen. Sayuris Blick glitt wie der vieler anderer zu den Gestirnen empor. Über ihr thronte Turu in seinem grünen Licht am Firmament. Noch stand der Mond alleine dort oben, bald aber würde Lauryns Frühling beginnen, das Fest, das früher einmal die warme Jahreszeit angekündigt hatte, indem Lauryn Turus kühle Herrschaft am Himmel anfocht und eine Zeit begann, in der die Monde gemeinsam am Himmel standen.
Die Nacht wurde wie Lauryns Winter in der ganzen Stadt gefeiert, die Straßen wurden geschmückt, die Häuser geputzt, die beste Kleidung angelegt, ein Festmahl zubereitet – alles zu Ehren des Mondes, der in dieser Nacht wieder in Erscheinung treten würde. Obwohl schon seit fast zwanzig Jahren die Wüste das Land in ein immer gleiches Kleid hüllte und seither kein Regen mehr gefallen war, erwarteten die Bewohner der Stadt Lauryns Frühling doch mit aller Ungeduld und freudiger Erwartung, als würde sich am folgenden Tag der Himmel verdunkeln und der Regen fallen, der die lang ersehnte Blütenpracht des Frühlings mit sich brachte, wie es die Älteren noch zu erzählen wussten.
Lauryns Frühling war ein Fest der Freude und des Verzeihens. In dieser Nacht bat man um Vergebung und die Monde verziehen, was unter ihren Augen im vergangenen Jahr geschehen war. Am Morgen dann, wenn Tshanil, ihre Schwester, erwachte und den Tag mit Licht erfüllte, hatte auch sie verziehen.
Sayuri wandte ihren Blick der Straße zu. Immer mehr Menschen versammelten sich am Hauptstrom, um der Prozession des Palastes beizuwohnen. Jedes Jahr verlief sie durch die inneren Stadtviertel und der Herrscher der Stadt kniete vor dem Schrein der Götter nieder und bat sie alle vor den Augen des Volkes um Vergebung für Fehlentscheidungen und um Kraft und Mut für das neue Jahr.
Da der Kaiser selbst schon seit vielen Jahren seine ganze Kraft in die Quellen Shanus steckte, um sie aufrechtzuerhalten, trat sein Bruder diesen Weg an Lauryns Frühling für ihn an. Miro war Sprachrohr und Ratgeber des Kaisers. Manche Menschen glaubten, er würde bereits ohne Rücksprache mit seinem Bruder regieren, andere hielten ihn für einen treuen Untertan des Kaisers.
Sayuri bückte sich und ließ ihre Hand ins Wasser des Flusses gleiten. Für einen Moment verharrte sie, bevor sie sich entschlossen aufrichtete und zurück ins Haus ging.
Turus Mondlicht fiel durch die Fenster und erhellte den Raum so weit, dass sie sich zurechtfinden konnte. Mit sicheren Handgriffen schnürte sie in der Dunkelheit Säcke und Beutel zu, schloss Dosen und legte Steine aus der Auslage zurück in einen Korb. Auf der Theke standen die zerstoßenen Wurzeln eines Waliobaums und sie deckte die Schüssel mit einem Teller ab.
Dann ließ sie sich nachdenklich auf den Platz hinter der Theke sinken. Wie von selbst griff ihre Hand in den Korb mit Steinen und zog einen von ihnen hervor. Er war klein und kalt, seine Oberfläche ganz glatt, ohne Kanten und Unebenheiten, wie die meisten anderen sie hatten. Sayuri hielt den Stein ins Mondlicht. Im Sonnenlicht wäre er von einem klaren Blau gewesen, das nur von wenigen weißen Linien durchzogen wurde, jetzt schimmerte er türkisfarben.
Sayuri lehnte sich zurück und drehte den Stein im Mondlicht. Manchmal schien das Weiß wie die
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