Sayuri
Brandung und das Blau wie schäumende Wellen, dann erinnerte der Stein wieder an einen ruhig daliegenden See.
Sayuri lächelte. Ihre schlanken Finger schlossen sich um den Stein und sie stand auf. Draußen hatte sich der Himmel verdunkelt. Ohne zu zögern, drehte sie ihrem Laden den Rücken zu und stieg die Treppe hinauf.
Das letzte Stück musste sie über eine Leiter klettern, kurz darauf trat sie auf das flache Dach hinaus, das nur noch von drei Seiten von einer bröckelnden Mauer umgeben war. Im Windschutz der Mauern wuchsen kleine Bäume, Büsche, Blumen und Kräuter und Turus Licht tauchte den kleinen Garten in einen unwirklich grünen Schein.
Sayuri hob den Blick zum Himmel, wo Turu noch immer als Herrscher über die Sterne stand. Doch sein Licht schien blasser geworden zu sein, dafür erstrahlten die Sterne umso heller. Sayuri kniff die Augen zusammen und suchte nach dem dunklen Fleck, der Lauryns Erscheinen ankündigte. Sie entdeckte ihn nicht weit von Turu. Dort verschluckte eine tiefe Schwärze alles Licht der Sterne und des Mondes. Mit angehaltenem Atem beobachtete Sayuri den Himmel, auch wenn sie genau wusste, was geschehen würde, und es schon oft genug gesehen hatte.
Die Schwärze verzog sich langsam; nicht wie ein Vorhang, der zur Seite geschoben wurde, mehr als würde sich ein Schwarm dunkler Vögel teilen, sodass langsam das Licht des blauen Mondes hindurchschimmerte, kräftiger und kräftiger wurde, bis alle Schwärze um ihn verschwunden war und Lauryn in seiner vollen Pracht, fast doppelt so groß wie sein kleiner Bruder, den nächtlichen Himmel erhellte.
Sayuri hörte die Freudenrufe von der Straße, hörte, wie in der Stadt die Glocken des Frühlings geläutet wurden, und wusste, dass Miro nun seinen Weg antrat.
Aber ihr Blick hing weiter an Lauryn. Sein Gesicht war stets strahlend klar gewesen, nun jedoch schien er eine Spur der Schwärze behalten zu haben, als würde ein Teil von ihm nicht recht erscheinen wollen.
Ihre Stirn zog sich in tiefe Falten. Ohne es zu merken, strich sie über den glatten Stein, der in ihrer Hand inzwischen warm geworden war. Ein Gefühl böser Vorahnung machte sich in ihr breit. Unruhig schweifte ihr Blick umher, der Wind frischte auf und suchte sich seinen Weg durch die Straßen und Gassen der Stadt. Auch hier oben auf dem Dach trieb er sein Spiel, fuhr durch die Blätter und ließ das abgefallene Laub durch den Nachthimmel tanzen.
Mit langsamen Schritten trat sie in ihren Garten und strich sachte über die Blätter einiger Pflanzen. Sie spürte das Leben in den Blättern, ihr ungeduldiges Warten. Die Blüten öffneten sich und wandten sich Lauryn zu, Äste und Zweige streckten sich dem Mond entgegen. Sayuris Hände strichen über die Pflanzen und löschten ihren Durst nach dem Regen, den sie schon seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr gespürt hatten.
Der Wind zog an ihren Haaren und ihrem Kleid, als drängte er sie fort. Mit einem letzten Blick zum Himmel trat Sayuri zurück auf die Stufen der schmalen Treppe, wo sie noch einmal verharrte und in ihren Garten blickte. Die Blüten hatten sich gänzlich geöffnet. Wie Wasser nahmen sie das Mondlicht in sich auf und schienen von innen heraus zu strahlen. Auch Sayuri spürte das Mondlicht auf ihrer Haut wie ein warmes Kribbeln.
Plötzlich wurde die Stille im Haus von einem lauten Pochen an der Ladentür durchbrochen. Rasch lief Sayuri die Stufen hinab und öffnete die Tür.
Der Wind fuhr Kiyoshi durchs Haar und kräuselte die Oberfläche des Flusses. Lampions an Booten und Häusern erhellten ihren Weg. Zwei Soldatenboote fuhren vor, zwei hinter ihnen. Ihr Boot war mit festlichen Girlanden geschmückt; Blumenkränze, kostbarer noch als Gold in diesen trockenen Zeiten, rahmten das Deck ein.
Kiyoshi fror. Es war nicht so sehr der kalte Wind, der ihn zittern ließ und vor dem er sich mit seinem warmen Mantel schützen konnte, sondern eine Kälte, die sich in ihm ausgebreitet hatte und die sogar den pochenden Schmerz in seiner Seite überdeckte. Sein Blick glitt über die Menschen, die sich am Ufer versammelt hatten. Sie trugen ihre besten Kleider. Kinder hielten Laternen, die sie auf ihrem Weg begleiteten. Manche Menschen hatten Lichtschiffe auf den Fluss gesetzt und Irrlichter tanzten über ihnen, in allen erdenklichen Blau- und Grüntönen strahlend. Noch vor einer Stunde hätte Kiyoshi dieser Anblick gefreut. Jetzt aber fühlte er nur eine abgrundtiefe Leere in sich, eine Leere, die sich langsam mit Zorn und
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