Sayuri
nachdem die feindlichen Armeen sie zerstört hatten. Er wusste nicht, wie viele Menschen in die Stadt gekommen waren, mit nichts weiter als der Kleidung, die sie am Leib trugen.
In den Jahren nach dem Krieg war lediglich ein gutes Geschäft entstanden, als einige Händler auf die Idee kamen, Zinaden zu bauen und Leitungen in den äußeren Kreis und bis zu den Bauern und ihren Feldern zu legen, sodass das Wasser nicht mehr mühselig in Eimern geschleppt werden musste. Mit den Bauern war der Handel einfach gewesen. Für das Wasser, das sie ihnen hinausleiteten, erhielten die Bürger der Stadt einen Anteil am Ertrag der Felder.
Was ihn zurück zu den Tallern brachte. Denn sie hatten nichts, das sie gegen Wasser eintauschen konnten.
Ihr nehmt uns alle Rechte, sperrt uns in Viertel ein und dreht die Wasserleitungen zu, sodass wir elendig verdursten!, hörte Kiyoshi wieder die Stimme des Mädchens, als würde es neben ihm stehen.
Sein Blick glitt zum Fenster hinaus in den Palastgarten, der von Shanus Flussläufen wie von einem Adergeflecht durchzogen wurde. Hinter der hohen Mauer erhob sich die Kuppel einer Zinade.
Unsinn! Der Kaiser sorgte für seine Bürger, sowohl für die Liganer als auch für die Taller. Das Wasser wurde gerecht verteilt – sie mussten zwar dafür zahlen wie jeder andere auch –, aber die Wasserleitungen ganz zuzudrehen und den Tallern damit die Lebensgrundlage zu nehmen, das hätten der Kaiser und sein Bruder niemals zugelassen.
Und trotzdem – etwas bohrte in ihm, eine kleine Stimme, die nicht lockerließ. Was, wenn doch etwas Wahres an dem war, was das Mädchen gesagt hatte? Seit einigen Wochen hörte man Gerüchte im Palast, Geflüster der Dienstboten, heimliches Getratsche der Frauen. Angeblich sank der Wasserspiegel.
Kiyoshi hatte bislang nicht viel darauf gegeben, hatte sich mit Rajar sogar über all die dummen Gerüchte lustig gemacht. Dass der Wasserspiegel sank, war ein Schreckgespenst für kleine Kinder. Damit wurde ihnen gedroht, wenn sie unartig waren oder nicht einschlafen wollten.
Der Wasserspiegel konnte nicht sinken. Das war einfach undenkbar. Dafür war die Macht des Kaisers über die Quelle zu groß.
Oder nicht?
Was, wenn die Händler tatsächlich das Wasser für den äußeren Kreis eingeschränkt hatten – und das mit gutem Grund?
Stöhnend versuchte sich Kiyoshi auf die andere Seite zu drehen, musste aber feststellen, dass seine Wunde in dieser Lage zu sehr schmerzte.
Könnte er doch diese verdammte Grübelei abstellen! Sich den Kopf zu zerbrechen, war vermutlich nicht der schnellste Weg, wieder gesund zu werden.
In dem Moment klopfte es an der Tür.
Eine Dienerin verneigte sich mehrmals, bevor sie mit gesenktem Blick endlich zu sprechen begann. »Eure Hoheit, der Kaiserbruder möchte Euch sehen«, sagte sie atemlos.
Kiyoshi richtete sich auf. »Dann ruf ihn herein.«
»Jawohl, Eure Hoheit«, nickte das Mädchen schnell und war gleich darauf verschwunden.
Einen kurzen Augenblick später betrat sein Onkel das Zimmer. Der Bruder des Kaisers trug die Farben des Landes. Auf seinem weiten Umhang prangte das Wappentier, ein Wiljar, das sich zum Sprung aufbäumte und von neun zuckenden Schwänzen umspielt wurde. Doch statt der Krone trug er einen Kranz aus geflochtenen Zweigen des Maloubaums und anstatt eines Zepters trug er als Zeichen der Würde lediglich einen einfachen Stab aus Holz, dessen Knauf allerdings mit Juwelen verziert war. Miro trat bewusst als Bruder des Kaisers auf. Er bestand darauf, dem Volk zu zeigen, dass der Kaiser noch immer regierte, obwohl er nie in die Öffentlichkeit trat und sein Bruder all seine Befehle zu verlautbaren und durchzusetzen hatte.
Kiyoshi bezweifelte, dass sich viele davon in die Irre leiten ließen. Im Palast war es ein offenes Geheimnis, dass Miro nicht bloß die Befehle des Kaisers ausführte. Der Kaiser konzentrierte all seine Kraft auf die Quelle – er war darauf angewiesen, dass sein Bruder für ihn das Regierungsgeschäft übernahm.
Kiyoshi deutete den traditionellen Gruß an, den er aufgrund seiner Wunde jedoch nicht vollständig durchführen konnte.
Sein Onkel verneigte sich, wie es die Regeln vorschrieben, und schloss dann die Tür hinter sich.
»Ich muss mit dir sprechen.« Er zog sich einen Stuhl ans Bett.
Kiyoshi fielen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf und der matte Schimmer der Müdigkeit, der seine Augen kleiner wirken ließ. »Ich habe dem, was ich bereits erzählt habe, nichts hinzuzufügen«,
Weitere Kostenlose Bücher