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Sayuri

Sayuri

Titel: Sayuri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carina Bargmann
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dem Maloubaum mit seinen großen fächerartigen Blättern hatte er einen guten Blick zu dem Haus, ohne dass ihn seine Mutter sehen konnte. Selbst heute hatte er manchmal noch das Gefühl, seiner Mutter unter diesem Baum näher zu sein, als wenn er einem ihrer Tagträume lauschte. Er fühlte sich im Schutz der großen Blätter sicherer, als wenn sie ihn in den Arm nahm, ohne dass er wusste, ob sie ihn nun erkannte oder im nächsten Moment von sich stieß, weil sie glaubte, einen Fremden zu umarmen.
    Nachdenklich sah er zu der Insel, auf der zu dieser späten Zeit kein Licht mehr im Haus brannte. Das hätte sein Zuhause sein müssen. Stattdessen fühlte er sich dort so fremd wie in der Stadt unter den enttäuschten und zornigen Blicken der Bürger.
    Entschlossen rappelte er sich auf. Er benahm sich wie ein Kleinkind. Wenn er so weitermachte, lief er Gefahr, wie seine Mutter zu werden. Und was das hieß, wollte er sich nicht mal ausmalen.
    Er war jetzt siebzehn, fast erwachsen und alt genug, um Miros Last zu teilen. Er hatte keine Schwächen zu zeigen oder gar Angst vor den Bürgern der Stadt zu haben – der Stadt, die er als Miros Erbe eines Tages verwalten würde.
    Höchste Zeit, seinen Onkel aufzusuchen und das weitere Vorgehen zu besprechen.
    Kiyoshi straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zu der Insel, auf der in einem der ältesten Bauten des Palastes die Regierungszimmer untergebracht waren. Nachdem er das Wäldchen verlassen hatte, kam er auf den mondbeschienenen Kiesweg und folgte ihm über eine Brücke.
    Er passierte gerade die Pferdeställe, als plötzlich Stimmen an sein Ohr drangen.
    »… wird er es schaffen?«
    Kiyoshi hielt inne, als er die Stimme Miros erkannte. Warum war sein Onkel um diese Zeit hier draußen? Er hatte Kiyoshi noch auf dem Boot gesagt, dass er den Abend in den Regierungsräumen verbringen würde.
    »Einige Wochen wird er noch durchstehen«, schnurrte eine besorgte Stimme. »Doch es geht bergab. Ich kann kaum noch etwas tun, um es hinauszuzögern.«
    Kiyoshi glitt an die Wand des Stalls in den Schutz eines mannshohen Busches. Es war keine bewusste Handlung, eher ein unbestimmtes Gefühl, das ihn instinktiv in den Schatten zurückweichen ließ.
    Mit langsamen, trägen Schritten kamen Miro und der Arzt des Kaisers den Weg entlang. Miros Schritte knirschten auf dem Kies, während die samtigen Pfoten des Wiljars keinerlei Laut verursachten. Obwohl der Wiljar den katzenähnlichen Kopf leicht gesenkt hielt, wirkte er keineswegs wie ein Untergebener. Er war ein freies Geschöpf der Wüste. Gerade jetzt, im hellen Mondlicht, das auf sein nachtblaues Fell dunkle Schattierungen warf, wirkte der Wiljar mehr denn je wie eine wilde Katze, von der man nie genau wusste, ob sie schnurren oder beißen würde, wenn man sie streicheln wollte.
    Kiyoshi spähte unter den Blättern hindurch. Geht vorbei, dachte er beschwörend und schien damit genau das Gegenteil zu erreichen, als Miro stehen blieb und seinen Blick über die Gärten schweifen ließ.
    »Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis wir den Schuldigen gefunden haben.«
    Der Wiljar gab einen grollenden Laut von sich, der Zustimmung signalisieren sollte und der Kiyoshi eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Unwillkürlich hielt er den Atem an.
    »Wenn ich nur wüsste, wer es ist«, murmelte Miro mit einem tiefen Seufzer.
    »Es müssen einfach alle die Stadt verlassen, bis wir den Richtigen haben. Die Unschuldigen können wieder in die Stadt zurückkehren, sobald wir ihn gefunden haben«, schnurrte der Wiljar.
    Kiyoshi runzelte die Stirn. Die Unschuldigen?
    Miro nickte nachdenklich. »Hoffen wir, dass wir ihn schnell finden. Es ist nur einer von ihnen und wir haben keinen weiteren Anhaltspunkt als sein Alter.«
    Der Wiljar ging einige Schritte weiter. »Wir werden ihn finden«, versprach er leise. »Und dann kehren die Kräfte des Kaisers zurück und die Quelle wird reicher sprudeln als je zuvor.« Die Worte klangen mehr nach einer vagen Hoffnung als nach einer festen Überzeugung.
    Miro verharrte noch einen Moment, dann seufzte er tief und folgte dem Wiljar.
    Kiyoshi blieb wie erstarrt im Schatten stehen, selbst als Miro und der Wiljar längst aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Wahrscheinlich waren sie vom Kaiser gekommen und auf dem Weg zu den Regierungsgebäuden, die Kiyoshi gerade hatte aufsuchen wollen.
    Ihm war plötzlich kalt, obwohl es nachts trotz des kühlen Windes und

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