Sayuri
eingeschritten?
Die Blicke der anderen hatten sich erwartungsvoll auf sie gerichtet.
Marje drängte ihre Verwirrung und ihren Ärger zurück und berichtete in wenigen Sätzen, was letzte Nacht geschehen war. Inzwischen wusste sie schließlich, wem sie da über den Weg gelaufen war. Auf ihre letzten Worte folgte tiefes Schweigen. Es war so still, dass man den Sand hören konnte, der in einem Stundenglas in die Tiefe rieselte.
»Prinz Kiyoshi, Marje, ich bin beeindruckt. Dumm nur, dass der junge Mann es so einfach wegzustecken scheint«, unterbrach Ruan schließlich die Stille.
»Nun, auf mich hat er heute Abend einen anderen Eindruck gemacht«, warf Milan leise ein. »Bereits zu Beginn der Prozession wirkte er blass und angespannt. Und als er dann ins Wasser sprang, um dieses Kind vor dem Ertrinken zu retten, und hinterher wieder auftauchte, dachte ich, seine Beine würden ihm jeden Moment den Dienst versagen.«
»Das freut einen doch zu hören«, warf der Junge aus dem Süden ein und das Mädchen, das die erste Frage gestellt hatte, nickte grimmig.
»Bei der nächtlichen Kälte in den Shanu zu springen, um ein Kind aus dem Wasser zu fischen – das hätte ich dem Kerl gar nicht zugetraut!« Ruan wirkte wider Willen beeindruckt.
»Was mich viel mehr interessiert, ist die Frage, weshalb er letzte Nacht gezögert hat, als er Marje gegenüberstand, und warum Miro den Angreifer nicht öffentlich suchen lässt«, brachte Milan sie wieder auf das Thema zurück. »Als Stadtwache hätte er Marje festnehmen müssen. Und wenn er gewollt hätte« – Milan warf Marje einen kurzen Blick zu –, »dann hätte er sie auch töten können. Spätestens aber nach dem Angriff wäre eine Reaktion aus dem Palast zu erwarten gewesen.«
»Der Kaiser war sicherlich nicht sonderlich erfreut, dass man seinen Neffen angegriffen hat«, überlegte ein Junge.
»Und nun haben sie einen guten Grund mehr, Jagd auf uns zu machen. Schließlich sind wir ja nur Gesindel, das ihnen ein Dorn im Auge ist!« Ruans Stimme hatte an Schärfe zugelegt.
Milan nickte. »Der Kaiser gibt dem Drängen der Händler und Handwerker nach, die die Straßenkinder aus der neuen Stadt schon lange gerne los wären. Mit sechzehn haben sie ein gutes Durchschnittsalter erwischt«, sagte er und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, warnte Ruan. »Wir müssen so schnell wie möglich in unsere Viertel zurückkehren und Vorsorge für unsere Freunde und Familien treffen! Nutzen wir den kurzen Vorsprung, den die Soldaten uns noch geben.«
Die anderen nickten zustimmend und schon standen die Ersten auf und machten sich bereit zum Gehen. Auch Milan hatte sich von seinem Hocker erhoben, auf dem er rittlings gesessen hatte. »Thar und Shoan kümmern sich um das Westviertel«, murmelte er in Marjes Richtung. »Ich habe sie unten am Fluss getroffen, sie sind sofort aufgebrochen. Setz dich mit ihnen in Verbindung!« Noch ehe sie etwas erwidern konnte, war er schon auf dem Weg zur Tür. Verwirrt sah Marje ihm nach und blickte schließlich fragend zu Sayuri auf, aber ihre Freundin zuckte nur mit den Schultern.
Die Gäste verabschiedeten sich rasch, nachdem Milan verschwunden war. Einer nach dem anderen verließen sie den Laden, um in ihre Stadtviertel zurückzukehren. Nur Ruan blieb mit seinen beiden Leibwächtern zurück.
»Ich frage mich, ob es nicht einen anderen Grund gibt, warum der Prinz gezögert hat«, sagte er leise und bedachte Marje mit einem scharfen Blick. »Und warum man keine Jagd auf dich macht.«
Herausfordernd erwiderte sie: »Was willst du damit sagen?«
Ruan aber lächelte nur überlegen. »Nun, wir werden es erfahren.« Fast wie eine Drohung klangen diese Worte, bevor er sich leicht in ihrer beider Richtung verbeugte und Sayuri ein strahlendes Lächeln zuwarf, um dann mit seinen Leuten aus dem Laden zu huschen und im Gewirr der Straßen zu verschwinden.
Die Mädchen fanden sich plötzlich alleine im dunklen Laden wieder. »Was sollte das denn jetzt?«, fragte Marje. Ihr Blick lag noch immer auf der geschlossenen Tür.
Sayuri rutschte von der Theke und sammelte die leeren Tassen ein. Stumm half Marje ihrer Freundin, während sie über Ruans Worte nachdachte. Shio erhob sich aus der Kerze, in der er während ihrer Unterhaltung gedöst hatte, und leuchtete den Mädchen den Weg in die Küche, wo sie das Geschirr abstellten.
Sayuri bot ihrer Freundin an, bei ihr zu übernachten, worauf Marje gerne einging.
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