Sayuri
der sinkenden Temperaturen angenehm warm blieb. Vorsichtig trat er auf den Weg zurück, stolperte und konnte sich gerade noch fangen.
Es gab keinen Zweifel. Miro hatte ihn angelogen! Ihn und das ganze Volk.
Die Kälte breitete sich in ihm aus und er begann, am ganzen Körper zu zittern. Wenn Miro sogar ihn belog, wenn selbst er nicht die Wahrheit erfahren durfte, konnte er dann seinem Onkel überhaupt noch trauen? Ihm und dem Kaiser?
Er überlegte einen Moment. Sollte er Miro mit dem konfrontieren, was er gehört hatte? Das Gespräch, das sein Onkel an seinem Krankenlager mit ihm geführt hatte, ergab nach diesen Worten, die er eben belauscht hatte, keinen Sinn mehr. Aber weshalb belog Miro das Volk?
Offenbar sollten alle Sechzehnjährigen verbannt werden, um einen Einzigen von ihnen zu treffen. Und es war augenscheinlich nicht die Quelle selbst, die dieser Einzelne beeinträchtigte. Es war der Kaiser, der in Gefahr schwebte!
Kiyoshi sah sich um. Einsam und verlassen lagen die Inseln im Licht der Monde da. Kein Mensch war zu sehen. Nur aus den weiter entfernt liegenden Regierungszimmern leuchtete der Schein vieler Kerzen.
Doch Kiyoshi wollte seinem Onkel jetzt nicht gegenübertreten. Dafür war er viel zu aufgewühlt. Wie hatte Miro ihn dem Volk als Erben präsentieren können, ohne ihm die Wahrheit darüber zu sagen, was wirklich vor sich ging?
Kiyoshi wandte sich um und lief den Weg hinab, in ein Wäldchen, das sich über mehrere Inseln erstreckte. Er ließ sich auf das Moos sinken und schloss für einen Moment die Augen.
Nachdenken. Seine Gedanken ordnen. Danach sehnte er sich jetzt am meisten.
Shio empfing sie hell leuchtend, als Marje die Stufen in Shoans Wohnung hinabstieg. Mit einem Lächeln begrüßte sie ihr Irrlicht, das sich zufrieden auf ihrer Schulter niederließ. Als Marje den Flur entlangging, schlug ihr aus Shoans Wohnzimmer lautes Stimmengewirr entgegen. Der Raum war kaum wiederzuerkennen. Das Lager, auf dem Shoan sonst schlief, war zusammengeräumt und in die Bibliothek verbannt worden, sein Besitz, bis auf ein paar wenige Stühle, hatte folgen müssen. Thar begrüßte sie am Eingang und schloss dann die Tür hinter ihr.
»Du bist wie immer die Letzte«, bestätigte er auf ihren fragenden Blick hin.
»Je später der Morgen, desto hübscher die Gäste«, grinste ein Junge neben ihr an der Tür.
Marje verdrehte die Augen. Der Satz erinnerte sie an Ruan. Bevor sie neben Shoan auf einem freigehaltenen Stuhl Platz nahm, ließ sie ihren Blick noch einmal über die Anwesenden schweifen. »Wo sind die Bourden-Geschwister?«, fragte sie schließlich. Beim Klang ihrer Stimme sahen einige auf und ließen die Gespräche verstummen.
Shoan zuckte mit den Schultern. »Ich hab ihnen Bescheid gegeben …«, meinte er nur.
»Ihre Mutter hat die Tochter im Keller eingesperrt, weil sie sechzehn ist, und ihr Bruder leistet ihr aus Solidarität Gesellschaft, glaub ich«, rief jemand aus der hinteren Ecke.
Marje nickte langsam. Alle anderen, die ihr gerade einfielen, waren da. Insgesamt drängten sich fast vierzig junge Menschen in dem kleinen Raum zusammen. Der sandige Boden war zwischen den sitzenden und stehenden Jugendlichen kaum noch zu sehen und die sandfarbenen Wände schienen Marje das erste Mal nicht trist und leer, so bunt zusammengewürfelt wirkten die Gestalten, die sich davor zusammendrängten. Obwohl das Treffen noch nicht einmal richtig begonnen hatte, war die Luft bereits stickig. Durch die schmalen Fenster, die knapp unter der Decke waren, kam nur wenig Licht und noch weniger frische Luft in den Raum.
Entschlossen stand Thar auf. »Willkommen«, rief er und die Gespräche verstummten endgültig. Alle Blicke richteten sich auf ihn.
»Teilweise haben wir euch gestern Abend schon aufgesucht, teilweise habt ihr selbst gehört, was der Kaiser verkündet hat. Ich denke, wir wissen alle, was das bedeutet«, begann er.
Sofort wurden Stimmen laut.
»Das ist eine Jagderlaubnis für die Söldner draußen vor der Stadt!«
»Die wollen uns doch nur einschüchtern.«
»Schlechte Tarnung«, murmelte ein Junge neben Marje.
Fragend sah sie ihn an. Eine schwarze Tätowierung zog sich um sein rechtes Auge und zeichnete ihn als Bandenanführer aus. Die dünnen schwarzen Linien schlängelten sich um sein Auge wie gierige Flammen und griffen auch nach seinem restlichen Gesicht. Doch statt sich dem Betrachter aufzudrängen, erschien die Tätowierung nicht wie ein Fremdkörper in dem ebenmäßigen Gesicht,
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