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Sayuri

Sayuri

Titel: Sayuri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carina Bargmann
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Hilfe nehmen. An den wenigsten Stellen war der Shanu im Palast breiter als zwei Schritte. Lediglich das Hafenbecken, in das die vielen kleinen Äderchen des Flusses mündeten, bildete eine Ausnahme. Von dort aus schlängelten sich die Lebensarme Shanus durch die Stadt, um dann in den Abgrund zu stürzen und schließlich unter der Erdoberfläche zu verschwinden.
    Am Rande eines kleinen Wäldchens blieb Kiyoshi stehen und lehnte sich erschöpft gegen den knorrigen Stamm eines alten Baumes. Unwillkürlich presste er eine Hand auf den Verband, den er in der Stadt angelegt bekommen hatte, und warf einen nervösen Blick zurück. Noch war ihm niemand gefolgt, aber das bedeutete nicht, dass Rajar ihn nicht abpassen würde, sobald er von seinem Vater aus dem Dienst entlassen wurde. Auch Miro würde bestimmt bald nach ihm schicken. Es gab viel zu planen für die nächsten Tage und sein Onkel hatte immer wieder darauf beharrt, dass er jetzt alt genug war, die Pflichten und Aufgaben zu übernehmen, die ihn als Miros Erbe erwarteten.
    Aber noch war er allein und das war gut so. Knorrige Wurzeln rankten aus dem Boden und streckten ihre Enden gierig zum Wasser. Das grüne und blaue Licht der Gestirne ließ das ruhig dahinfließende Wasser in einem magischen Glanz schimmern.
    Ohne sich dessen bewusst zu sein, lenkte Kiyoshi seine Schritte zum alten Maloubaum, unter dem er als Kind oft gesessen hatte, wenn er allein sein wollte. Der Baum stand nahe an einem Ufer und umschloss mit seinen gewaltigen Wurzeln eine sandige Bucht, in der er sich früher gerne versteckt hatte.
    Kiyoshis Gesicht überzog ein wehmütiges Lächeln. Nun war er leider kein Fünfjähriger mehr, der vor dem Leben einfach davonlaufen und sich verstecken konnte.
    Wie viel hätte er dafür gegeben! Er ließ sich auf den Sand vor dem Maloubaum sinken und schloss die Augen. Sofort sah er die entsetzten und hilflosen Gesichter der Menschen vor sich, die heute Abend die Kundgebung Miros gehört hatten. Zornig hieb er mit der Faust auf den feuchten, schlammigen Sand ein.
    Es war falsch, falsch und ungerecht. Sie konnten nichts dafür! Aber hatte der Kaiser eine andere Wahl? Was war schon die Verbannung für die paar Sechzehnjährigen, von denen viele Tagelöhner oder Taugenichtse waren, gegen das Leben der ganzen Stadt? Der Kaiser hatte tatsächlich keine andere Wahl gehabt. Das Volk hatte die Entscheidung seines Herrschers zu akzeptieren. Die Menschen mussten darauf vertrauen, dass er klug zu regieren verstand.
    Darüber hinaus – wie kam er überhaupt dazu, den Kaiser infrage zu stellen? Oder Miros Worte?
    Kiyoshi stöhnte auf. Es musste dieses Mädchen sein. Die Begegnung mit ihm hatte ihn völlig durcheinandergebracht!
    Sein Blick wanderte durch den Garten, der auf der anderen Flussseite lag. Dort drüben stand ein kleines Häuschen, das durch hohe, schmale Baumreihen von den anderen Inseln des Palastes abgeschirmt war. Es war von einem Kräutergarten und mehreren Blumenbeeten umgeben. Zwei Dienerinnen kümmerten sich um das Haus und den Garten. Und sie kümmerten sich um die Bewohnerin dieses Hauses.
    Kiyoshi lächelte unwillkürlich, als er an seine Mutter dachte. Sie liebte die Natur so sehr, dass sie sich für ein Leben in diesem kleinen Häuschen entschieden hatte, und niemand, nicht einmal Miro, hatte sie überreden können, sich wieder dem Leben in einem der großen Palastgebäude zuzuwenden.
    Er konnte sich kaum daran erinnern, dass seine Mutter jemals anders gewesen war. Ihre Gedanken waren nie ganz im Hier und Jetzt, häufig schien sie sich in andere Welten zu träumen. Zu oft, wie Miro es ausdrückte.
    Inzwischen musste die Dienerin, die bei ihr wohnte, sich mehr um sie als um das Haus oder den Garten kümmern. Manchmal vergaß seine Mutter sogar, dass sie essen musste. Oft saß sie einfach da, blickte Ewigkeiten lang in den Himmel, in die Sterne oder blinzelte in Tshanils warme Strahlen und vergaß Zeit und Ort. Manchmal begann sie dann zu erzählen, zusammenhangslos zwar, aber doch, als würde sie ganz klare Bilder vor Augen sehen, Erinnerungen heraufbeschwören, die sie nie erlebt hatte. Kiyoshi wünschte, er könnte sehen, was sie sah.
    Mittlerweile erkannte sie ihn meist nicht einmal mehr als ihren Sohn oder sprach ihn mit falschem Namen an. Nur selten war sie noch bei so klarem Verstand, dass er sich mit ihr ganz normal unterhalten konnte.
    Als Kind war sie ihm manchmal unheimlich gewesen. Oft hatte er sich dann an diesen Ort geflüchtet. Hier unter

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