Sayuri
Die Scherbe fuhr scharf an seinem Arm vorbei und ritzte die dünne Haut leicht auf. Er spürte ein kurzes Brennen und wich einen weiteren Schritt zurück.
»Feigling«, knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Musst du gerade sagen. Wer geht denn hier mit einer Waffe auf einen Unbewaffneten los?« Mit bloßen Händen stand er ihr gegenüber. Er bemerkte das Pochen der alten Wunde in seiner Seite und seine Schulter fühlte sich von dem heftigen Schlag des Tonkrugs taub an.
Langsam ließ das Mädchen die Hand mit der Tonscherbe sinken. Plötzlich wich alle Wut aus ihren Augen und sie ließ schlaff ihre Arme neben dem Körper baumeln. »Warum tut ihr das?«, fragte sie und in ihrer Stimme konnte Kiyoshi plötzlich so etwas wie Verzweiflung hören. »Warum nur tut ihr uns das an?«
Verblüfft sah Kiyoshi, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Was sollte er ihr nur darauf antworten? Er konnte schlecht eine Entscheidung des Kaisers und seines Bruders verteidigen, wenn er sie selbst infrage stellte.
»Wir tun es für das Volk«, sagte er trotzdem und musste sich räuspern, weil seine Stimme rau klang.
»Aber das sind wir!«, rief das Mädchen. Ihre Augen funkelten unter Tränen, die sie wütend wegwischte. »Wenn angeblich alles für das Volk getan wird, warum müssen dann immer wir darunter leiden?«
»Ich … weil …« Hilflos brach er ab und sah zu dem anderen Mädchen, das im rötlichen Schein des Irrlichtes noch bleicher wirkte. Selbst seine Haare schimmerten ganz weiß. »Weil der Kaiser in die Zukunft sieht, wenn er seine Entscheidungen trifft. Und das bedeutet auch, dass er in der Gegenwart manchmal hart sein muss.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. »Ihr macht das nicht für uns«, flüsterte sie heiser. »Noch nie habt ihr etwas für uns getan!«
Sie betrachtete die Tonscherbe und zuckte mit den Schultern, als würde ihr plötzlich klar, wie wenig sie mit dieser Waffe würde ausrichten können.
Sie sah plötzlich jünger aus als noch wenige Augenblicke zuvor und mit einem Mal spürte Kiyoshi das absurde Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und sie zu trösten.
Er fühlte sich, als hätte er alleine das Urteil über all die Sechzehnjährigen gefällt, und wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen Vorwurf zu widerlegen. Aber egal, was er ihnen erzählte, sie würden es ohnehin nicht hören wollen, in ihren Ohren würde es nur wie eine neue Ausrede, eine neue Erklärung des Kaisers klingen.
Eine Hand auf die schmerzende Seitenwunde gepresst, ging er zur Tür, zog mit der zweiten Hand seinen noch feuchten Schal vors Gesicht und sah dann noch einmal über die Schulter zu den beiden Mädchen, die reglos dastanden, ehe er hinaus auf die Straße trat.
Marje lehnte die Stirn gegen Sayuris Schulter und atmete tief durch.
Er ist hier gewesen, hier bei Sayuri.
Es war unfassbar.
»Wie ist er hier reingekommen?«, fragte sie matt.
Sayuri strich ihr sanft übers Haar und lächelte nur. Was sonst eine beruhigende Wirkung hatte, machte Marje jetzt nervös. Könntest du es mir doch erzählen, dachte sie beinahe bitter und schlang die Arme nur noch fester um Sayuri.
Sie fühlte sich schrecklich. Milan hatte sich seit dem Tag der Versammlung nicht mehr blicken lassen und Thar war mit Shoan im Westviertel in einen Krieg gegen die Soldaten verwickelt, den niemand als Krieg bezeichnen wollte. Während die Bewohner der Viertel taten, als wäre alles wie immer, brodelte es gefährlich unter dieser aufgesetzten Oberfläche. Milan hatte ihr das Versprechen abgenommen, auf Sayuri aufzupassen, und das blasse Mädchen, das sonst seinen Laden immer im Griff hatte, schien plötzlich an allen Enden und Ecken Hilfe zu brauchen. Marje verdächtigte sie, mit Milan zusammenzuarbeiten; wahrscheinlich sollte Marje so beschäftigt werden, dass sie Thar und Shoan nicht zu Hilfe kam und sich in Gefahr begab. Anfangs war sie darüber verärgert gewesen, aber seit Thar und Shoan sich nicht mehr meldeten und von Milan ebenso jede Spur fehlte, war sie doch froh, wenigstens Sayuri in Sicherheit zu wissen. Schließlich konnten die Soldaten auch jeden Tag hier durch die Tür kommen und versuchen, sie mitzunehmen. Sie wäre nicht die Erste, die es unter den Liganern treffen würde.
Vier Tage sind es erst, dachte sie bei sich und sah zur inzwischen geschlossenen Ladentür. Und schon bin ich nahe daran aufzugeben. Wo war nur Milan? Verdammt, wo bist du?!
Sie unterdrückte die Tränen, die sich schon
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