Sayuri
die Insel führte. In den Regierungsgebäuden wurden gerade die Kerzen entzündet und erhellten die prächtigen Säle und Flure mit ihren unruhigen Lichtern.
Kiyoshi war noch immer unschlüssig und er hasste sich dafür.
Nach dem Zwischenfall in der alten Stadt war er unerkannt bis zum Schrein vorgedrungen. Er befand sich auf dem Platz des Turu in einem kreisrunden Tempel aus weißem Marmor. Im Gegensatz zu den Gebäuden des Palastes schmückten weder Fahnen noch prächtige Brunnen den Platz und der Tempel selbst war ein schlichter, schmuckloser Bau. An diesem Ort sollten alle Gedanken auf die Götter gelenkt sein.
Die Tempeldiener hatten bei Kiyoshis Anblick trotz seiner immer noch nassen Kleider kein Misstrauen geschöpft – sie waren viel zu ehrfürchtig gewesen, weil der Neffe des Kaisers den Schrein aufsuchte.
Er hatte die Diener nach draußen geschickt – angeblich, um im Inneren des kreisrunden Tempels am Schrein des Turu zu beten. Doch in Wirklichkeit hatte er das Buch der Prophezeiungen aufgeschlagen.
Und er hatte recht behalten. S sehr er auch suchte, er fand einfach nichts. Kein einziges Wort stand darüber geschrieben, dass die Kinder, die vor sechzehn Jahren geboren worden waren, der Quelle die Kraft rauben würden. Es gab keine Prophezeiung der Sterndeuter!
Kiyoshi hatte den Beweis, dass Miro gelogen hatte, in den Händen gehalten. Aber er hatte auch keinen Hinweis auf einen einzelnen Sechzehnjährigen gefunden, der Unglück über den Kaiser bringen würde. Das Buch der Prophezeiungen hatte nichts von den Geheimnissen, die Miro und der Kaiser haben mochten, preisgegeben.
Ratlos hatte sich Kioyshi auf den Weg zurück zum Palast gemacht. Den ganzen Tag über hatte er mit sich gerungen und war doch zu keiner Entscheidung gelangt. Ein wenig hilflos fühlte er sich, während er immer wieder überlegte, ob er Miro wirklich mit seinem Wissen konfrontieren sollte.
Was hatte er schon zu verlieren?
Viel. Sehr viel. Das musste er sich selbst eingestehen.
Miros Schutz. Miros Wohlwollen. Und vor allem: Miros Vertrauen.
Wer war er überhaupt, seinen Onkel der Lüge zu bezichtigen? Würde er wirklich etwas erreichen, wenn er den Kaiserbruder, den Regenten der Stadt, auf diese Art und Weise zur Rede stellte?
Mit ein paar Sätzen kletterte Kiyoshi die Böschung hinauf. Zwei steinerne Wiljare, die am Fuße der Brücke auf beiden Seiten Wache hielten, blickten ihm aus leeren Augen entgegen.
Alles Grübeln würde ihn nicht weiterbringen. Er musste endlich etwas tun! Mit energischen Schritten lief er über den sandgestreuten Weg, den Blumenbeete säumten. Wenig später öffnete sich die breite Auffahrt zu den Regierungsgebäuden vor ihm. Sie waren auf einer der größten Inseln des Palastes gebaut und viel prächtiger als die Wohngebäude. Lampions, die zur Dämmerung angezündet wurden, säumten die breiten Stufen und die Insignien des Kaisers schmückten die Marmorsäulen und reich verzierten Geländer.
Kiyoshi nickte den Wachposten zu und ließ sich bei seinem Onkel melden.
Bald darauf winkte ihn ein Diener hinein. Sie durchquerten breite Flure. Hier war der Trinidorboden mit dicken Stoffen belegt. Uralte Wandgemälde zeigten längst vergangene Ansichten der Stadt und immer wieder Kaiser, die Ahnen seiner Familie.
Wenig später bedeutete der Diener ihm, dass sein Onkel ihn erwarte. Die Tür aus Malouholz, die zu Miros Arbeitszimmer führte, war nur angelehnt.
Mit gesenktem Kopf trat Kiyoshi ein und sank auf die Knie, um sich vor dem Bruder des Kaisers zu verneigen, wie es die Etikette verlangte.
Miro saß an seinem Schreibtisch. Er hatte im Schreiben innegehalten, legte den Kopf nun leicht schräg und rückte den Stuhl ein Stück zurück, um die Beine übereinanderzuschlagen, während er ihm bedeutete aufzustehen.
Kiyoshi gehorchte automatisch. Diese Art von Begrüßungsritualen gegenüber älteren und höherrangigen Personen lernte jedes Kind bereits in jungen Jahren.
»Was führt dich zu mir?«, erkundigte sich Miro mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, sondern vielmehr einer halb fertigen Maske glich.
»Ich muss mit dir reden, Onkel«, begann er vorsichtig.
Miro seufzte schwer. »Natürlich«, stimmte er zu. Fast wirkte er, als wüsste er bereits, worum es ging. Sorgsam wischte er die Feder sauber und legte sie in eine kostbar verzierte Schatulle. Den Brief beschwerte er mit einem Stein, den das Flusswasser rund gewaschen hatte, dann erhob er sich aus seinem Stuhl und streckte
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