Sayuri
wieder ihren Weg bahnen wollten, und stand hastig auf.
Sayuri sah sie vorsichtig an, als wollte sie abschätzen, wie gut es ihrer Freundin wieder ging. Dann nickte sie und ging zur Theke, um ein Kehrblech zu holen.
Schuldbewusst sah Marje auf die Tonscherben. »Lass mich das machen«, bat sie, aber Sayuri kniete schon auf dem Boden, um das Chaos zu beseitigen.
Hilflos stand Marje daneben. »Tut mir leid«, sagte sie leise. Als sie den Neffen des Kaisers so nahe bei Sayuri gesehen hatte, hatte sie sich nicht zurückhalten können. Ihre Hand ballte sich wieder zur Faust. Noch brannten ihre Knöchel von den Schlägen, die sie ausgeteilt hatte, und die Haut an ihren Handgelenken war dunkelrot. Spuren seiner Finger waren noch dort zu erahnen, wo er sie festgehalten hatte.
Sein Geruch, als er ihr so nahe gewesen war, hatte sie für einen Moment irritiert und auch die Augen, die seltsam traurig aussahen. Seine feuchten Haare hatten ihr Gesicht gestreift und sie konnte den angenehmen Geruch frischen Grases riechen, vermischt mit einem Duft, der sie an Sayuris Garten erinnerte. Was auch nicht weiter verwunderlich war, schließlich lebte er in einem Paradies hinter den Palastmauern.
In seinem Palast fehlte es ihm an nichts, dort war er sicher und konnte ein sorgloses Leben führen. Warum also war er in die Stadt gekommen? Noch dazu ohne Uniform, verkleidet, tropfnass, das Gesicht hinter dem breiten Schal verborgen?
Was auch immer sein Ziel war, hier hatte er es bestimmt nicht erreicht. Ihr Blick glitt wieder auf ihre Hände hinab, die sie unbewusst zu Fäusten geballt hatte.
Ich habe mich mit Miros Erben geprügelt, schoss es ihr durch den Kopf. Das glaubt mir Thar nie!
Sie sah zu Sayuri hinüber, die ein Tuch hervorgeholt hatte, in das sie die Tonscherben bettete, um sie dann sorgsam zu verpacken.
»Was machst du da?«, wollte Marje neugierig wissen.
Sayuri lächelte leicht, während sie das Tuch um die Scherben schlug und sie schließlich wie einen wertvollen Schatz in die Schublade ihrer Theke legte.
Gerade, als Marje eine weitere Frage stellen wollte, blitzte etwas am Rand ihres Blickfeldes auf und gleich darauf schwirrte Shio aufgeregt in rotem und gelbem Licht flackernd zur Theke.
Marje fing ihn aus der Luft ab und nahm ihn vorsichtig in ihre Hände, während Sayuri eilig eine Kerze anzündete, um es dem Irrlicht angenehm gemütlich zu machen.
Erleichtert ließ Shio sich in das Licht der Kerze sinken und verdoppelte dessen Leuchtkraft, während sein Licht mit dem der Flamme für das menschliche Auge verschmolz. Es sollte Wesen geben, die ein Irrlicht in einer natürlichen Lichtquelle erkennen konnten, aber den Menschen war das nicht vergönnt. Marje und Sayuri konnten ihn nur erkennen, wenn er eine andere Farbe als das Kerzenlicht annahm oder vor ihren Augen in die Flamme flog.
»Hast du Milan gefunden?«, fragte Marje sofort. Shio war seit Stunden unterwegs, immer auf der Suche nach ihm oder einer Nachricht.
Das Kerzenlicht pulsierte in einem ruhigen Rhythmus und gewann an Kraft, sodass Marje und Sayuri nicht mehr direkt hineinsehen konnten, sondern den Blick auf die Tischplatte richteten.
»Shio!«, mahnte Marje. Es war eine denkbar ungünstige Zeit, Informationen zu horten.
Mit einem Sirren schwirrte Shio zu ihr auf die Schulter und umkreiste ihren Kopf, während er so schnell erzählte, dass Marje kaum folgen konnte. Ihre Augen weiteten sich erst vor Staunen, dann vor Entsetzen. »Nein«, murmelte sie leise und starrte in das Kerzenlicht auf dem Tisch.
Es klang gleichzeitig unglaublich und war doch so wahrscheinlich. Plötzlich musste sie an Ruans Abschiedsworte denken. Bereits damals hätte sie verstehen sollen, dass Ruan nicht nur für sich gesprochen hatte, sondern dass auch Milan bereit war, zu viel zu riskieren, zu viel zu opfern.
Sie wandte sich zu Sayuri, die sie stumm anstarrte. Ihre Gesichtsfarbe war kaum mehr von der ihrer Haare zu unterscheiden.
»Ich gehe ihn suchen«, versprach Marje ihrer Freundin und ihre Stimme klang mit einem Mal so hart, dass sie selbst darüber erschrak. »Und, bei Turu, ich werde ihn finden.«
7. Kapitel
D as Wasser schwappte ans Ufer und leckte an Kiyoshis Schuhen, sodass sich das helle Leder dunkel färbte. Stumm stand er da und sah auf die spiegelblanke Oberfläche des Flusses hinab. Tshanils letzte Strahlen reflektierten auf dem Wasser und ließen ihn blinzeln.
Unruhig sah er zur Brücke auf, die nur wenige Schritte neben ihm über den schmalen Fluss auf
Weitere Kostenlose Bücher