Sayuri
zweifeln können. Er hatte sich viel zu sehr von der Suche nach den Sechzehnjährigen beeindrucken lassen. Und von diesem Taller-Mädchen.
Er sprang gerade über einen kleinen Nebenarm des Flusses, nicht weit von seinem Schlafgebäude, als ein zorniger Ruf die Nacht zerriss. Abrupt hielt er inne. Sein Blick raste über die Inseln, doch er konnte nichts erkennen. Doch da – in den Gärten, die sich den Regierungszimmern anschlossen, regte sich etwas.
Die Tür zur hinteren Veranda stand noch immer offen. Im Schein der dort brennenden Lampions waren schwarze Gestalten zu erkennen. Und jetzt klang eindeutig das Klirren aufeinanderprallender Waffen an sein Ohr.
Kiyoshis Herz machte einen Satz. Sein Blick raste zu den Soldaten am Eingang, die sich bereits aufmachten, um ihrem Regenten zu Hilfe zu eilen, aber sie waren mit Sicherheit weiter entfernt als er und lange würde Miro sich nicht gegen die Angreifer, die in der Überzahl waren, verteidigen können.
Mit zwei großen Sprüngen war Kiyoshi am anderen Ufer und lief auf die Kämpfenden zu.
In Marjes Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Immer wieder wiederholte sie dieselben Sätze. Er ist fort! Mit Milan waren auch Ruan und einige seiner Freunde verschwunden. Jeden, den Marje im Ostviertel getroffen hatte, hatte sie nach ihnen gefragt. Als sie dann auf ein Mädchen gestoßen war, das Genaueres über die Pläne der jungen Rebellen wusste, war ihr eiskalt geworden.
Keuchend rannte sie nun die breite Hauptstraße am Ufer des Shanus nahe Sayuris Laden entlang. Einen Augenblick lang zögerte sie, aber Tshanil war schon fast hinter dem Horizont verschwunden. In kürzester Zeit würde die alte Stadt in der Dunkelheit der Nacht liegen. Sie durfte keine Zeit verlieren. Shio war bei Sayuri und würde auf sie aufpassen – und schließlich war Sayuri auch nicht auf den Kopf gefallen.
Zwar hatte sie Milan das Versprechen gegeben, auf ihre gemeinsame Freundin aufzupassen. Aber das hatte er nur von ihr verlangt, um sie abzulenken und zu beschäftigen. »Während du dich selbst umbringst, soll ich mich hübsch heraushalten«, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Als das Palasttor in ihr Blickfeld kam, verlangsamte sie ihre Schritte, doch die Wachen vor den Toren schenkten ihr keinen Blick. Mit gesenktem Kopf ging sie die Straße entlang, bis sie auf die letzte Querstraße vor dem Tor stieß. Von hier aus konnte man zur einzigen Stelle gelangen, die einen Zugang zum Palast zuließ, ohne dass die Wächter den Eindringling sofort im Blick hatten.
Was nicht hieß, dass die Stelle nicht bewacht wurde.
Über eine Brücke gelangte sie an das Flussufer, das an den Palast grenzte. Unsicher sah Marje zu den hohen, herrschaftlichen Häusern der Straße auf. Sie konnte sich nicht entscheiden, bei welchem Haus sie versuchen sollte, in den Hinterhof und von dort auf die Palastmauer zu kommen. In einem Garten schräg vor ihr sah sie im Licht einiger bunter Lampions eine Familie beim Essen.
Fahrig strich sie sich durch die Haare. Keine gute Idee. Das Ganze konnte doch nur schiefgehen. Sie verstand nicht, wie Milan mit dieser Aktion der Bevölkerung helfen wollte. Im Palast gab es so viele Wachen und Soldaten, dass es an ein Wunder grenzte, wenn er dort lebend herauskäme!
Entschlossen zog Marje die Kapuze tiefer ins Gesicht. Sie musste ihn einfach davon abhalten. Wenn es dafür nicht ohnehin schon zu spät war …
Ohne weiter zu überlegen, ging sie zur nächsten Pforte und spähte in den Garten. Er war dunkel. Das Licht der Lampions, die zur Straße hin angebracht waren, wurde von den hohen Sträuchern, die Sichtschutz bieten sollten, geschluckt. Lautlos kletterte Marje über das Tor und wartete geduckt, ob sie entdeckt worden war, aber alles blieb still. Sie hielt sich, so gut es ging, im toten Winkel der Fenster und schlich sich am Herrenhaus vorbei in den Garten dahinter.
Zu ihrer großen Enttäuschung gab es weder hohe Sträucher noch Bäume, mittels deren Hilfe sie über die Mauer hätte klettern können. Marjes Blick schweifte in die benachbarten Gärten. Sie wagte sich nicht auf die freie Rasenfläche, die bereits im Licht der beiden Monde lag. Die Sonne verabschiedete sich gerade mit ihren letzten Strahlen vom Tag, aber der Abend war noch zu jung und der Tag noch nicht alt genug, als dass die Hausbewohner schon schlafen würden.
Im Nachbargarten erspähte sie einen Baum. Er war nicht sehr groß, aber seine knorrigen Äste reichten bis an die Mauer heran. Mit ein wenig
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