Sayuri
höher gelegenen Fenster aus besser sehen zu können. Nach wenigen Minuten fand sie, wonach sie gesucht hatte.
Es war ein verfallenes Gebäude mit Balkon, der nur ein Stockwerk über ihr lag. Es war der einzige Teil der alten Stadt, der nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut worden war. Die anliegenden Häuser waren alle nicht bewohnt, die Menschen mieden den Platz in der Regel. Auf den Balkonen, an den zerbrochenen Fenstern und auf Mauerresten hatten sich bereits Leute versammelt, um das Spektakel von oben zu betrachten.
Sayuri kletterte über die spröden Steine, die der Wind aus dem Haus gerissen hatte, und nutzte jeden tieferen Riss und jedes Loch in der Wand als Kletterhilfe. Einmal rutschte sie ab, da der Stein, an dem sie sich festgehalten hatte, nicht mehr fest in der Mauer verankert war, dann fing sie sich wieder und zog sich schließlich zu dem halb eingestürzten Balkon hinauf.
Von hier oben konnte sie den gesamten Platz überblicken. Sayuri setzte sich auf den Rand des Balkons und blinzelte in die Tiefe. Um Tshanils helle Strahlen abzuschirmen, hob sie eine Hand über die Augen.
Von den Gefangenen war noch keiner zu sehen. Nur Soldaten, die die Menschen so weit zurückdrängten, dass eine kreisrunde Fläche vor dem Abgrund freiblieb. Auf einem niedrigen Podest standen Miro und sein zukünftiger Erbe. Da die rechtmäßigen Vertreter des Kaisers bereits anwesend waren, konnte die Hinrichtung jeden Moment beginnen.
Sayuri spannte unbewusst alle Muskeln an. Schon lange hatte es keine Hinrichtung mehr in der Stadt gegeben; die letzten waren am Ende des Krieges vollzogen worden.
Das Getuschel der Menschen unter ihr und auf den anderen Balkonen verstummte schlagartig, als ein Boot die Gefangenen brachte. Niemand sprach ein Wort, als die Verurteilten an Land und in den kleinen Kreis vor Miro und den Prinzen gestoßen wurden.
Einige aus den Zuschauerreihen begannen zu applaudieren. Sofort versuchten Soldaten, diese Menschen herauszuziehen, aber die Menge hielt zusammen und niemand konnte sehen, wer geklatscht hatte.
Sayuri versuchte, nicht auf die Unruhen zu achten. Noch hatte sie keine freie Sicht auf die Gefangenen.
Doch dann erkannte sie Ruan. Er stand zwischen zwei seiner Getreuen und einem Jungen, der aus dem Ostviertel kam. Noch vor wenigen Tagen waren sie bei der Versammlung in Sayuris Laden gewesen. Mühsam holte sie Luft. Es fühlte sich an, als würden sich ihre Lungen zusammenziehen.
Sie reckte den Hals, um einen Blick auf den Größten unter ihnen zu erhaschen. Obwohl er die anderen um fast einen ganzen Kopf überragte, konnte sie ihn nicht richtig erkennen, da zwei Soldaten ihr die Sicht versperrten. Dann drehte er sich um.
Es war ihr so vertraut. Das Lächeln auf seinem Gesicht, der stolze Ausdruck, als er seinen Blick über die Menge gleiten ließ …
Schließlich fand Milans Blick den ihren. Sein Lächeln verblasste kaum merklich, als er stumm den Kopf schüttelte, und für einen Moment sah er aus, als wankte er. In seinem Gesicht spiegelten sich Trauer und Mutlosigkeit, doch dann straffte er sichtlich die Schultern, ehe er sich umdrehte.
Der Kloß in Sayuris Hals machte ihr das Atmen unmöglich. Ihr Blick raste hinüber zu den anderen Gefangenen. Insgesamt waren es sieben, die die Soldaten zur Hinrichtung hierhergebracht hatten, aber unter ihnen war kein Mädchen. Die Erleichterung, dass Marje nicht dabei war, wurde von dem bitteren Geschmack überdeckt, dass sie für ihre Freunde dort unten nichts tun konnte. Lautlos stieg ein Schluchzen in ihr auf. Als Miro zu sprechen anhob, riss sie sich mühsam vom Anblick der Gefangenen los. Sie konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren, verstand kaum, was der Kaiserbruder dem Volk mitteilte, aber sie spürte deutlich, dass Miros Worte Unmut unter den Leuten hervorriefen.
Milan hatte sich vor dem Podest wie ein selbst ernannter König aufgebaut und die Menschen schauten zu ihm auf – mit Ausnahme der reichen Liganer, die sich dieses Schauspiel von einer Art Tribüne aus ansahen.
Auch wenn er nur ein Taller war, war Milan doch überall in der alten wie in der neuen Stadt bekannt. Und jeder wusste, dass Milan nicht nur für die Taller gehandelt hatte. Er hatte es für all die Sechzehnjährigen getan. Sein Name wurde in der versammelten Menge immer wieder geflüstert.
Ob ihm klar war, was sein Tod bedeutete? Milan hatte es geschafft, die Anführer mehrerer Viertel zu vereinen, anstatt sich in Machtkämpfe mit anderen Banden zu verstricken.
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