Sayuri
Wenn er nicht mehr war, würden die Banden wieder in ihre alten Strukturen verfallen. Seine ganze Arbeit war umsonst gewesen, geopfert für ein schlecht geplantes Attentat, das auch noch gescheitert war.
Stumm starrte sie zu ihm hinunter und konnte nicht umhin, ihn für seine stolze Haltung zu bewundern. Auch Ruan, der neben ihm stand, lächelte, obwohl er ebenso gut wusste, dass sie gleich in den Schlund gestoßen werden würden.
»… letzten Worte?«
Die Menge war still geworden. Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf Milan, aber es war Ruan, der das Wort ergriff. »Ich wurde angeklagt, weil ich ein Verbrechen am Volk begangen haben soll«, sagte er langsam. »Doch das einzige Verbrechen am Volk ist, dass ich meine Aufgabe nicht beenden konnte.«
Sayuri hielt die Luft an und die ganze Menge schien es ihr gleichzutun. Alle Augen richteten sich auf Miro, in banger Erwartung, was er erwidern würde. Doch auf dem Podest blieb es still und plötzlich hob einer in der Menge die Hände und begann zu klatschen. Erst war es nur ein Händepaar, dann folgte ein zweites, schließlich fielen immer mehr in den Applaus mit ein.
Ruan verneigte sich leicht vor den Menschen, dann trat er an den Abgrund und sah hinab, dorthin, wo das Wasser tosend in der Tiefe verschwand. Als er wieder zu den Menschen blickte, verstummten sie.
Sayuri hielt den Atem an, als sie die Wachen sah, die auf ihn zugingen.
»Aber wir wollen uns den Gesetzen nicht widersetzen, denn sie sind für das Volk gemacht.« Nach diesen Worten wandte er sich wieder um und tat den letzten Schritt ins Leere, bevor die Soldaten ihn stoßen konnten.
Sayuri starrte auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Das Wasser hatte Ruan mit sich gerissen. Er war fort, einfach verschwunden.
Milan bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Auch sie gingen zum Abgrund. Er trat an die Kante, dann drehte er seinen Kopf und sein Blick suchte Sayuris Augen. »Ist es das wert gewesen, fragen sich viele von euch?«, rief er laut, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
»Ja, das ist es!«
Sein Blick wurde zu einer Frage, gleichzeitig zu einer Bitte und plötzlich wusste Sayuri, dass er Marje nicht mehr gesehen hatte.
Stumm nickte sie. Selbst wenn sie nicht wusste, wo Marje war, sie würde sie finden und für sie da sein. Sie gab ihm dieses letzte Versprechen, auch wenn Tränen über ihre Wangen liefen und ihr die Sicht nahmen.
Er drehte sich nicht um.
Er sprang rücklings in den Schlund.
Sayuri sah, wie er im Sturz noch etwas rief, aber sie konnte es nicht mehr verstehen. Sein Blick hing an ihr, die ganzen letzten Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen.
Dann bäumte sich das Wasser um ihn herum auf und verschlang ihn.
9. Kapitel
D as Zwitschern eines Vogels weckte sie. Warm schien die Sonne auf ihr Gesicht und das Lager, auf dem sie geschlafen hatte, war so weich, dass sie darin einsank. Träge öffnete sie die Augen und blinzelte in Tshanils Licht. Sie fühlte sich noch immer müde, obwohl sie wie ein Stein geschlafen hatte.
Ihr Blick schweifte durch den schmalen Raum. Neben ihr erhob sich eine Wand aus dunklem Holz, die im Sonnenlicht golden schimmerte. Marjes Hand glitt über die warme Oberfläche. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war.
Suchend glitt ihr Blick durch den Raum und schließlich aus dem Fenster. In leuchtenden Farben reckten sich Blüten der Sonne entgegen, grünes Gras schoss zwischen den Pflanzen in die Höhe und der Fensterrahmen war von Efeublättern umrankt.
Einen Augenblick lang noch starrte sie verständnislos aus dem Fenster, dann kehrte die Erinnerung an den Vortag zurück, ihre Suche nach Milan, dann die Gewissheit, dass er ein Attentat auf Miro geplant hatte.
Hastig sprang sie auf. Kiyoshi!
Er war es gewesen, der den Tumult genutzt hatte, um sie hierherzubringen, statt sie in den Kerker werfen zu lassen. Verwirrt strich sie sich durch die Haare und versuchte, sich an die wenigen Worte zu erinnern, die sie gewechselt hatten. Sie war aufgeregt und außer sich gewesen, als sie Milan nicht hatte helfen können. Sie hatte ihn angeschrien und versucht zu fliehen.
Noch immer konnte sie seinen Griff um ihr Handgelenk spüren, als er sie hierhergebracht hatte, in das kleine Häuschen abseits der größeren Palastinseln. Ohne auf ihre Worte zu achten, hatte er sie mit sich fortgezogen, weg von den Kämpfenden und den herbeiströmenden Soldaten, die in Patrouillen die Gärten durchkämmten.
Marje sah sich unsicher um. Ein Bett stand neben dem
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