Sayuri
gut.«
»Wo ist das Kind?«, fragte die Frau plötzlich. »Wo ist es?« Ihre Stimme war so plötzlich in Panik umgeschlagen, dass Marje völlig verwirrt war. »Ich will zu ihr! Ich habe es ihr versprochen.«
Kiyoshi hob besänftigend die Hände. »Es ist alles gut«, wiederholte er nur hilflos.
Marje sah wieder auf den Ring in ihren Fingern. Nichts ist gut, dachte sie und kämpfte gegen die Tränen an, die heiß in ihren Augen brannten.
Nichts würde jemals wieder gut werden.
Die Frau deutete mit ihrer Hand auf sie und wieder fragte sie scheinbar völlig zusammenhangslos: »Wer bist du?«
Kiyoshi strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Das Mädchen darf hier sein«, sagte er.
Marje beobachtete, wie er sie wieder zu ihrem Stuhl brachte und ihr Saft eingoss. Sein Blick fiel auf den Ring in ihren Händen. »Hat er Milan gehört?«, fragte er ein weiteres Mal.
Stumm nickte Marje und umschloss den Ring in ihrer Faust. »Jetzt bin ich allein«, flüsterte sie leise.
Kiyoshi ließ sich neben sie auf den Boden sinken. Sein Blick streifte die Dolche, die in der Kiste lagen. Dann schloss er den Deckel mit einem leisen Klicken. »Du bist nicht allein«, entgegnete er leise. »Was ist mit dem Mädchen aus dem Laden?«
Marje schluckte. Sayuri! Ihre Freundin wusste nicht, wo sie war. Vermutlich hatte Sayuri schon längst von dem Attentat und der Hinrichtung gehört. Sie musste annehmen, dass auch sie tot war.
Marje griff nach dem Ring und steckte ihn sich an den Daumen. »Bring mich von hier fort«, sagte sie und starrte Kiyoshi an. »Bitte, du musst mich gehen lassen!«
Kiyoshi schüttelte entschieden den Kopf. »Noch nicht. Noch sind zu viele Soldaten in der Nähe.«
Marje sprang auf. »Kannst du nicht oder willst du es nicht?«, fauchte sie. Dann spürte sie, wie die Tränen kamen, langsam und unaufhaltsam. Verdammt, sie würde jetzt nicht weinen! Nicht vor ihm. »Sayuri weiß nicht, wo ich bin. Du musst mich zu ihr lassen.« Wütend funkelte sie ihn an.
»Sayuri?« Die Frau starrte in ihr Glas. »Kleine Lilie«, flüsterte sie gedankenverloren.
»Ja, Mutter, du hast recht. Sayuri bedeutet kleine Lilie«, sagte Kiyoshi geduldig.
Marjes Blick glitt zu ihm. Mutter?
»Ach, Silla«, flüsterte die Frau. »Es tut mir so leid. Dabei hatte ich es dir versprochen. Kleine weiße Lilie …«
Kiyoshis Blick heftete sich auf seine Mutter. Auf sein Gesicht war ein verblüffter Ausdruck getreten. »Silla?«, fragte er. »Wer soll das denn sein?«
Doch der Blick der Frau war bereits wieder in die Ferne geglitten. »Lilien. Sie sind so selten, nicht wahr?« Sie lächelte verträumt. »Silla wusste das auch.«
Kiyoshi seufzte. »Ja, Mutter«, sagte er.
Marje spürte, wie ihre Fassung schwand. Die Trauer um Milan schloss sich um sie wie eine Hülle. Plötzlich kam ihr alles andere unwirklich vor, diese verrückte Frau, die nur Unsinn daherredete, der Prinz, der unruhig auf und ab lief, dieser Raum, die Nacht des Attentats.
Alles, was sie wollte, war, von hier zu entkommen. Sie wollte nur noch nach Hause.
Nun konnte sie die Tränen nicht mehr unterdrücken. Ungehindert strömten sie über ihre Wangen und plötzlich war es ihr egal, dass er sah, wie sie weinte.
Die Schluchzer schüttelten sie, bis sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte, zaghaft, sanft, so leicht wie eine Feder.
»Hab keine Angst.«
Marje sah auf. Die Tränen verschleierten ihren Blick. Die Augen des Jungen waren auf sie gerichtet, mitleidig, fast zärtlich musterte er sie. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
»Ich verspreche es, niemand wird dir etwas tun.« Seine Stimme klang rau. »Ich bringe dich hier raus. Du kannst mir vertrauen.«
Dann beugte er sich zu ihr vor. Atemlos lauschte sie seinen Worten.
»Warum versteckst du sie?«
Kiyoshi wirbelte herum. Er hatte das Haus seiner Mutter gerade verlassen und wollte über einige Steine im Wasser auf die nächste Insel springen, als die Stimme ihn innehalten ließ. Rajar!
Sein Freund trat direkt hinter ihm zwischen den Bäumen hervor. »Du brauchst es gar nicht zu leugnen! Sie gehört zu den Attentätern, oder?« Um seinen Mund lag ein Zug der Verbitterung.
Verdammt!
Er hatte mit Soldaten gerechnet, mit Palastwachen, vielleicht sogar Miros Beratern. Aber ausgerechnet Rajar? Wie war er ihm auf die Schliche gekommen? War sein Freund ihm etwa gefolgt, als er die Dolche und den Ring an sich genommen hatte?
Kiyoshis Gedanken rasten. Früher hatten sie keine Geheimnisse
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