Sayuri
wiedersehen würde, war unvorstellbar. Aber sie durfte sich nicht ihrer Trauer überlassen, durfte nicht an ihn denken, sie musste zu Sayuri. Das war es, was jetzt zählte!
Verlasse die Stadt, hörte sie die Worte der Frau und beschleunigte unwillkürlich ihre Schritte.
Ob Kiyoshis Mutter wirklich ihre Sayuri gemeint hatte, als sie ihren Namen erwähnte? Sorge erwachte in ihr, die sie hastig beiseitedrängte. Die Frau hatte lediglich den Namen aufgeschnappt, den Kiyoshi und sie vorher benutzt hatten. Sie war eindeutig nicht zurechnungsfähig.
Nur mit einem hatte sie trotz aller Verrücktheit richtig gelegen: Sayuri war in Gefahr – jetzt nach dem Attentat noch mehr als zuvor. Und Marje schickte ein Stoßgebet zu Lauryn, dass sie nicht zu spät kommen würde.
Mit langen Schritten bog sie aus der Gasse in einen der Hauptwege ein und tauchte in der Menge unter. Einige verwunderte Blicke trafen sie, als sie sich ihren Weg bahnte. Kein Wunder, sie musste völlig zerkratzt und zerrissen aussehen!
Gerade, als sie dem Soldaten am Tor das Geld in die Hand drückte und an ihm vorbeilief, sirrte ein kleines Irrlicht auf sie zu und umkreiste summend ihren Kopf. »Shio!«, rief sie und fing ihn aus der Luft. Sie hielt das warme Licht zwischen ihren schützenden Händen, während sie eilig weiterlief. Sie wollte schnell weg von den Soldaten, ehe sie auf ihr Aussehen aufmerksam werden konnten. Shio befreite sich ein wenig unwillig aus dem Gefängnis und setzte sich sirrend auf ihre Nase.
Marje konnte ihm kaum folgen, so schnell erzählte er. Doch das Wesentliche erfasste sie. Und das Wesentliche war so schrecklich, dass Marje sich wünschte, es wäre ihr erspart worden.
Milan und Ruan waren öffentlich hingerichtet worden. Man hatte sie in den Abgrund gestürzt und Sayuri war als Zuschauerin dabei gewesen. Shio selbst war zu Hause geblieben, um sich von der nächtlichen Suche zu erholen und in einer Kerze Kraft zu tanken. Als Sayuri wiedergekommen war, hatte sie panisch die Türen verschlossen, ein Regal vor die Tür gezogen und die Fenster verrammelt. Dann war sie nach oben gelaufen und hatte sich in ihrem Garten versteckt. Shio war aufgebrochen, um Marje zu suchen, zumal man die Suche nach Sechzehnjährigen verstärkt hatte. Shio erzählte ihr, was er auf den Straßen beobachtet hatte. Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, und wer sich wehrte, wurde von Soldaten zusammengeschlagen. Der Widerstand der Banden war an manchen Orten ins Wanken geraten, an anderen erbittert weiterbetrieben, nun, da sie alle von den Hinrichtungen gehört hatten.
Marjes Fäuste ballten sich zusammen, als Shio von den Ereignissen bei den Tallern erzählte. Sie überquerte eine Brücke und bog in die Straße ein, in der Sayuris Laden lag. Shio trennte sich von ihr, um Sayuri in ihrem Garten aufzusuchen und Marjes Kommen anzukündigen.
Als Marje den Laden erreichte, riss Sayuri bereits die Tür auf und warf sich in ihre Arme. Stumm erwiderte Marje die Umarmung und plötzlich konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, obwohl sie doch wusste, dass sie jetzt für Sayuri da sein musste.
Sie merkte nicht, wie Sayuri die Tür hinter ihr schloss und sie wieder in den Arm nahm, sie spürte nicht, wie Shio sie leise tröstend umsurrte, sie ließ sich einfach fallen.
Die Erkenntnis, dass sie Milan nie wieder würde sehen können, nie wieder seine Stimme hören oder seine Hand auf ihrer Schulter fühlen würde, riss ihr den Boden unter den Füßen weg, nahm ihr das Fundament, worauf sie immer gebaut hatte. Er war ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen, das konnte doch nicht einfach vorbei sein!
Sie wusste nicht, wie lange sie in Sayuris Armen geweint hatte, als ihr Schluchzen endlich verebbte. Sie fühlte sich leer vor Trauer, ratlos und mutlos wie nie zuvor.
Müde schaute sie auf und sah die Tränenspuren auf den blassen Wangen ihrer Freundin. Die Freundin streichelte ihr wieder und wieder sanft über das Haar und sah sie aus ihren riesigen Augen stumm an.
Shio hüllte sie in warmes Licht, als die Dunkelheit des Ladens sie zu umfangen drohte.
Marje schluckte. Sie fühlte sich elend, aber sie war nicht allein in ihrer Trauer, daran erinnerte sie sich plötzlich.
Sayuri hatte nur sie. Sie durfte jetzt nicht aufgeben! Sie hatte eine Aufgabe – und sie war das Letzte, worum Milan sie gebeten hatte. Der letzte Wunsch, den sie ihm würde erfüllen können.
Sie richtete sich auf, straffte ihre Schultern und wischte sich die Tränen
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