Sayuri
aus dem Gesicht.
»Du bist hier nicht mehr sicher«, erklärte sie bemüht ruhig. »Die Soldaten haben ihre Suche verstärkt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie hier sind.«
Hilflos schweifte Marjes Blick durch den Laden. »Pack alles zusammen, was dir wichtig ist«, sagte sie tonlos.
Stumm sah Sayuri sie an, nickte dann aber und begann, das Nötigste zusammenzusuchen, während Marje unruhig im Laden auf und ab ging. Wo ließ sich nur ein sicheres Versteck finden? Überall waren Soldaten. Bei den Tallern waren die Banden auseinandergebrochen. Sie konnte sich das Chaos, das in ihrem Viertel vermutlich herrschte, kaum vorstellen. Kurz überlegte sie, ob sie Sayuri zu Milo oder Shoan bringen sollte. Aber Milo hatte kleine Kinder, für sie war das Risiko zu groß. Und Shoan war den Soldaten schon seit Langem ein Dorn im Auge. Sie wussten, dass er ein enger Vertrauter Milans war und dass er seinen Keller oftmals als Versammlungsort für Aufständler zur Verfügung stellte.
Marje stöhnte auf. Wie sie es auch drehte und wendete – sich innerhalb der Stadt zu verstecken, machte keinen Sinn. Es war einfach zu gefährlich.
Was blieb, war das Undenkbare.
Die Flucht aus der Stadt.
Marje schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte Geschichten von den wenigen Flüchtlingen gehört, die es in die neue Stadt geschafft hatten – Taller, die dem Leben draußen entkommen waren. Einzig die Söldnerclans und die Bauern, die aus der Stadt mit Wasser versorgt wurden, konnten in der Ödnis, die der Krieg zurückgelassen hatte, überleben. Den anderen Menschen drohte der sichere Tod – entweder in den Wäldern der Zentauren, über die man in der Stadt nur munkelte, in den Arbeitslagern und Minen der Söldner oder in den Fängen der Shaouran, eines gefürchteten Volkes, das angeblich jenseits der Wüste lebte.
Das, was hier in der Stadt an gebändigter Magie herrschte und sie am Leben erhielt, das tobte dort draußen wild und ungestüm. In der Wüste gab es Wesen und Kräfte, die Marje sich nicht vorstellen konnte. Nein, verbesserte sie sich, sie wollte es sich nicht vorstellen. Noch dazu kam, dass die Quellen, die früher auch außerhalb der Stadt entsprungen waren, fast allesamt versiegt waren. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass Marje nichts und niemanden außerhalb der Stadtmauern kannte.
Aber wohin konnte sie sonst? Das Westviertel bot nach dem Attentat nun mal keinen Schutz mehr.
Immerhin gab es Höfe in der näheren Umgebung der Stadtmauern, die mit Wasser versorgt wurden. Sie könnten versuchen, dort unterzukommen. Die Menschen würden sie nicht fortschicken! Schließlich waren sie nicht als Vertriebene gebrandmarkt wie die Sechzehnjährigen, die die Soldaten vor die Tore der Stadt trieben. Und im Gegensatz zu ihnen hatten sie jederzeit die Möglichkeit zurückzukommen.
Bei dem Gedanken wurde Marje wohler zumute.
Das war die Lösung! Sie würden draußen abwarten, bis sich die Lage beruhigt hatte, und dann zu ihren Freunden im Westviertel zurückkehren.
Sie würden nicht die Zeit haben, sich von Thar und Shoan zu verabschieden oder sie in ihren Plan einzuweihen. Sie wusste nicht einmal, wo die beiden waren. Sie konnte mit ihnen nicht über Milan sprechen … über das, was geschehen war.
Wieder stiegen Tränen in Marjes Augen. Unruhig drehte sie Milans Ring an ihrem Finger und erwartete, dass er jeden Moment zur Tür hereinkam. Er würde sie in den Arm nehmen, ihr erklären, dass das alles ein großer Irrtum war …
Vorsichtig streckte Sayuri ihre Hand nach ihr aus. Stumm sahen die Mädchen einander an.
»Wir müssen los«, sagte Marje nach einer Weile entschieden. »Wir müssen die Stadt verlassen.«
Sayuri schien nicht weiter überrascht zu sein. Sie ging in eine Ecke des Ladens und zog aus dem untersten Fach eines Regals eine Kiste hervor, in der zusammengefaltete Wasserschläuche lagen.
Verwundert blinzelte Marje. Dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Damit hätten sie zumindest für die ersten Tage ausreichend Wasser.
Shio sirrte protestierend.
»Du musst ja nicht mit!«, versuchte Marje das Irrlicht zu beruhigen. »Du kannst …«
Ein lautes Hämmern an der Tür brachte Marje zum Schweigen. Jemand versuchte erfolglos, die Tür zu öffnen, dann brach das Trommeln ab und draußen wurden Stimmen laut.
»Aufmachen!«, brüllte eine Männerstimme.
»Brecht die Tür auf!«, forderte eine andere.
Marje und Sayuri tauschten einen panischen Blick. Shio sirrte zu einer Spalte in der
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