Sayuri
Wand und spähte nach draußen, dann flog er zu Sayuri und verbarg sich in der Kapuze des Mantels, den sie sich gerade übergeworfen hatte. Marjes Blick huschte zur Hintertür. Sie führte auf den Hinterhof, von wo ein schmaler Weg zwischen den Häusern hindurch zur nächsten Parallelstraße führte.
Unter den Schlägen und Tritten der Soldaten hörten sie das alte Holz splittern. Marje griff nach Sayuris Hand und zog sie die Treppe hinauf, dann rannten sie zur Hintertür. Marje riss sie auf, um ihre Freundin gleich darauf in den Schatten einiger hoher Kisten zu ziehen, die davor im Flur standen. In dem Moment gab die Haustür nach und die Soldaten stürmten in den Laden. Einen Augenblick hielten sie inne und waren so still, dass man das Knarren der Hintertür hörte, als der Wind sie ein Stück weiter aufblies.
»Dort lang«, befahl einer der Soldaten und zeigte auf die Hintertür. »Die Ratten versuchen zu fliehen!«
Marje duckte sich noch tiefer in den Schatten der Kisten. Lass sie nicht die Treppe hochgehen, bat sie stumm Tshanil, deren helles Licht den Laden durch die offenen Türen durchflutete.
Zwei Soldaten rannten durch den Laden in Richtung Hintertür. Einer hielt kurz inne, um sich umzusehen, doch dann folgte er seinen Kumpanen zur Tür hinaus.
»Du nimmst die Nordseite, ich gehe nach Süden«, hörten sie ihn rufen. »Wäre doch gelacht, wenn wir sie nicht erwischen!«
Regungslos wartete Marje noch, bis sie sich sicher war, dass die Männer verschwunden waren. Dann ging sie mit Sayuri in den Laden zurück. Das Mädchen hatte bereits die Sachen für die Flucht in ein Bündel gepackt.
»Wir sollten nicht warten, bis sie ihren Irrtum bemerken«, sagte Marje mit einem traurigen Blick in den Laden, bevor sie durch die Vordertür schlüpften.
Ein letztes Mal schaute Kiyoshi zurück. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, hüllte die Welt in eine unerträgliche Mittagshitze und trieb alle Menschen, die nicht arbeiten mussten, in die kühlenden Schatten der Bäume.
Kiyoshi blinzelte zu Tshanil hinauf. Der blaue Himmel war makellos, ohne die kleinste Wolke. Schneeweiß, hatte man ihm gesagt, seien Wolken und in der Lage, Sonne und Monde vor den Augen der Menschen zu verbergen. In seinem gesamten Leben hatte Kiyoshi noch nicht eine dieser Wolken gesehen, die wie Watte sein sollten.
In seinem Bündel, das er an der Seite trug, hatte er alles, was er auf die Schnelle zusammengesucht hatte. Neben einem Schal und einem Dolch lagen dort das Buch, zwei Wasserschläuche, die er im Teich neben seinem Gemach gefüllt hatte, und etwas Proviant.
Und sein kostbarster Besitz. Die Karte. Er hatte sie in der Bibliothek gefunden, achtlos verstaut, nachdem sie sich für Miro als wertlos herausgestellt hatte.
Sein Schwert hatte er unter seinem schwarzen Umhang verborgen und auf ein Reittier hatte er verzichtet, um kein Aufsehen zu erregen. Die Wachen am Tor hatten ihn auf seinen Befehl hin gehen lassen. Kiyoshi wusste, dass sie Miro unverzüglich informieren würden, aber das gab ihm zumindest einen kleinen Vorsprung.
Mit schnellen Schritten lief er los und je weiter er durch die Stadt kam, desto deutlicher spürte er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Ein leicht fauliger Gestank hing über den Vierteln – nun war nicht länger zu leugnen, dass der Wasserstand tatsächlich fiel. Im Palast hatte man noch nichts davon gespürt.
Sein Onkel mochte in seiner Suche nach den Sechzehnjährigen gnadenlos wüten – aber Kiyoshi sah noch einen anderen Ausweg, um die Stadt zu retten.
Die Alternative wäre gewesen, in der Stadt zu bleiben und die Entscheidung seines Onkels mitzutragen.
Aber das konnte er nicht. Vielleicht war es dieses Mädchen gewesen, das ihn aufgerüttelt hatte, vielleicht war es aber auch etwas, das er schon lange hatte kommen sehen.
Nachdem er Marje versteckt hatte, hatte er einen Entschluss gefasst. Von nun an würde er die Dinge auf seine Art tun. Er war vielleicht Miros Erbe und er trug Verantwortung für die Menschen in der Stadt. Aber er war nicht Miros Marionette.
Die Stadt selbst glich einer Geisterstadt. Immer wieder kam er an Türen vorbei, die nur noch schief in den Angeln hingen oder ganz eingetreten waren. Ein kurzer Blick ins Innere der Häuser genügte, um zu sehen, dass ganze Wohnungseinrichtungen in Trümmern lagen. Bei einem Haus waren sogar die Fensterläden abgerissen worden, Glasscherben lagen auf dem Gehweg.
Plötzlich waren Schreie aus einem Haus zu hören.
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