Sayuri
Sofort hielt Kiyoshi inne und zog sich in den Schatten eines alten Karrens zurück, der neben der Tür stand.
»Lasst mir mein Kind!«, kreischte eine weibliche Stimme. Dann waren laute Schluchzer zu hören.
»Hier ist niemand mehr«, stellte eine männliche Stimme fest. Ein Junge wurde auf die Straße geschubst, hinter ihm traten drei Soldaten aus dem Hauseingang.
Kiyoshi duckte sich noch tiefer in den Schatten des Karrens. Er wagte es nicht einmal zu schauen, welche Richtung die Soldaten mit ihrem Gefangenen einschlugen. Erst als ihre Schritte verklungen waren und auch im Haus wieder Stille einkehrte, stand er vorsichtig auf.
Im Eingang des Hauses kauerte zusammengesunken eine Frau. Im Schoß hielt sie ein Kind, das lautlos weinte. Kiyoshi schluckte schwer. Ihr Blick aus den blauen Augen war so leer wie der strahlend blaue Himmel. Kiyoshi hätte die Frau gerne getröstet, doch ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.
Schnell lief er weiter und erreichte endlich die Straße, in der Sayuris kleiner Laden lag. Erleichtert verlangsamte er seine Schritte, bis er die eingetretene Tür sah. Wie erstarrt blieb er stehen. In der Straße war es still. Vor den Fenstern der meisten Häuser waren die Läden geschlossen.
Langsam ging er weiter.
Bis zur Türschwelle kam er, dort verharrte er wieder beim Anblick, der sich ihm bot. Ein Regal war umgekippt, hatte sich mit dem gegenüberliegenden verkeilt und versperrte den Weg in den hinteren Teil des Ladens. Der ganze Inhalt lag auf dem Fußboden verstreut – Tonkrüge, Schalen und Dosen lagen in Scherben, dazwischen breitete sich ein bunter Teppich aus Pulver, Kräutern und Körnern aus. Einige Glasperlen lagen dazwischen und fingen bunt schillernd das Licht der Sonne ein.
Entsetzt starrte Kiyoshi auf das Chaos.
Er war zu spät gekommen! Zu spät für die Antworten, die er hier zu erhalten gehofft hatte. Dabei brannten die Fragen wie Feuer in ihm, zerrten an ihm, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.
Wie sollte er sich auf seine Reise machen, ohne Gewissheit zu haben, was seine Mutter gemeint hatte? Stöhnend lehnte er sich gegen den Türrahmen. Und wenn er sich irrte? Wenn seine Mutter doch von jemand völlig anderem gesprochen hatte?
Wenn du die Lilie findest, dann findest du das Geheimnis.
Aber wo konnte da der Zusammenhang liegen?
Seine Mutter lebte tagaus, tagein im Palast. Niemals hätte sie allein ihre Gemächer verlassen. Sie konnte Sayuri nicht kennen, das war unmöglich.
Andererseits – Sayuri war ein ungewöhnlicher Name. Und auch die Bedeutung stimmte – Sayuri war die Lilie. Wollte er wirklich an einen Zufall glauben? Und warum hatte Miro so wütend auf diesen anderen Namen reagiert, den Kiyoshi noch nie zuvor gehört hatte – Silla?
Knarrend bewegte sich die Hintertür im Windzug, der Kiyoshi kühl die Haare aus dem Gesicht strich. Er brachte einen Hauch von Blüten und Frühling mit sich, der in der abgestandenen Mittagshitze fremdartig wirkte.
Unwillkürlich blickte sich Kiyoshi um. Woher kam dieser merkwürdige Duft? Er ließ seinen Blick über die zerbrochenen Krüge und die getrockneten Heilkräuter gleiten.
Dann fiel sein Blick auf den Durchgang hinter der Theke und die Treppe, die im Halbschatten lag. Und ohne darüber nachzudenken, folgte er dem Luftzug, stieg die Stufen empor ins darüberliegende Stockwerk, von wo eine Leiter weiter in die Höhe führte.
Und was er dort oben zu Gesicht bekam, ließ ihn in die Knie sinken. Es war pure Magie, die dieser Ort ausstrahlte mit all den fremdartigen Blüten und den üppigen Bäumen, den wundersamen Gewächsen und den unglaublichen Farben.
Kiyoshi kannte nur einen Platz in der Stadt, der in seiner atemberaubenden Schönheit diesem hier vergleichbar war.
Und als ihm diese Tatsache bewusst wurde, ahnte er etwas, das er vor wenigen Tagen noch für unmöglich gehalten hätte.
Der Wind strich ihr durchs Haar und drohte, ihr die Kapuze vom Kopf zu reißen. Mit einer Hand zog Marje sie tiefer ins Gesicht, während sie mit der anderen Sayuris Hand fest umschlossen hielt.
Seit ihrem Aufbruch war Sayuri immer wieder stehen geblieben. Marje fragte sich, was in ihr vorging. War es die Trauer, die Stadt zu verlassen? Oder war es die Angst vor dem, was vor ihnen lag?
Wieder und wieder kniete das Mädchen am Flussufer nieder und hielt seine Finger verträumt in das Wasser, als wollte es Muster auf die glatte Oberfläche zeichnen. Am Westtor hätte Marje sie fast zwischen den Menschen verloren, die
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