Sayuri
er keine Wahl hatte. Das Mädchen war eine Gefahr für die Stadt und nichts hinderte sie daran, zurückzukehren. Selbst wenn er die Wachen am Tor anwies, sie aufzugreifen, war das Risiko einfach zu hoch. Die Wache hatte schon einmal versagt.
Die Falten um Miros Mund vertieften sich, als seine Lippen wieder schmal wie ein Strich wurden und ein harter Ausdruck in seine Augen trat.
»Dann jagt sie«, befahl er grimmig.
Teil 2
1. Kapitel
D er Geruch süßer Berensfrüchte stieg ihm in die Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Kurz spähte er zum Haus hinüber, in dem die Bauernfamilie gerade zu Abend aß. Der Platz dazwischen wirkte verlassen, dennoch zögerte er. Einer der letzten Sonnenstrahlen des Tages fiel auf ihn und ließ ihn zurück in den Schatten des Stalls weichen, in dem die Grions unruhig zu schnauben und zu stampfen begannen. Sie schienen die Anwesenheit der Jäger zu spüren, doch die Bauernfamilie war abgelenkt und der Knecht hatte sich bereits zum Schlafen gelegt.
Unruhig ließ Suieen den Blick schweifen. Nirgendwo waren Faons zu sehen. Die sandfarbenen Wüstenhunde waren auf jedem Hof scharenweise anzutreffen. Die Bauern mochten die Hunde, denn sie waren aufmerksame Hofwächter, jagten Mäuse und Ratten und galten als treue Gefährten. Sie lebten im Wohnhaus, im Stall, im Schuppen und auf den Feldern – eben überall, wo sie jagen konnten und selbst nicht verjagt wurden.
Suieen hasste sie.
Aber heute schien er Glück zu haben. Kein Faon weit und breit, obwohl die Unruhe der Grions sie längst hätte anlocken müssen. Auch wenn er sich diesen Umstand nicht erklären konnte und es ihn misstrauisch stimmte, beschloss er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sein knurrender Magen hatte überzeugendere Argumente als die warnende Stimme in seinem Kopf.
Vorsichtig öffnete er den Riegel an der Stalltür und schob sie ein Stück auf, gerade so weit, dass er hindurchpassen würde. Mit einem Holzblock versicherte er sich, dass die Tür diesen Spaltbreit offen bleiben würde, dann wandte er sich wieder dem offenen Platz zu.
Noch immer regte sich nichts. Aus dem Haus drangen gedämpfte Stimmen und Gelächter, aber auf dem Hof hatte sich nichts verändert. Vorsichtig trat er aus dem Schatten. Halb geduckt überquerte er den Platz mit schnellen Schritten, bis er direkt am Wohnhaus hinter einem hohen Strauch auf den Boden sank und wieder atemlos lauschte. Noch immer war alles still. Zu still, wie er fand, aber er hatte keine andere Wahl. Seit Tagen hatte er nicht mehr gegessen.
Wieder glaubte er, den Duft von süßen Berensfrüchten wahrzunehmen, gemischt mit dem herben Geruch der Ironwurzel und kalter Kellerluft. Sein Magen zog sich vor Verlangen zusammen.
Vorsichtig kroch er auf die Tür zum Keller zu und überprüfte den Riegel. Eigentlich war es weniger eine Tür als vielmehr eine schmale Klappe. Nach der Ernte wurden die Steigen mit den Früchten durch diese Luke in die Lagerräume hinabgereicht. Der Riegel war eingerostet und alt, ließ sich aber mit ein wenig Kraft öffnen. Wieder hielt Suieen lauschend inne, aber noch immer schien niemand seine Anwesenheit auf dem Hof bemerkt zu haben.
Bei dem Gedanken, heute Abend mehr als nur ein paar Tropfen Wasser zu sich nehmen zu können, überkam ihn eine solche Begierde, dass es ihn alle Selbstbeherrschung kostete, die Tür nicht aufzureißen und in den Keller zu stürmen. Er leckte sich über die aufgesprungenen Lippen.
Mit einer Hand schob er vorsichtig die Tür einen Spaltbreit auf und spähte in die Tiefe. Der Geruch war so intensiv, dass er sich wie berauscht fühlte, aber als er den Kopf in die Öffnung streckte, konnte er auch noch etwas anderes wahrnehmen. In dem Keller war ein Faon.
Suieen zog hastig die Hand zurück und ließ die Tür zufallen. Atemlos drückte er sich an die Hauswand und wartete, aber aus dem Keller kam kein Laut. Ein Faon hätte längst gebellt, um sein Revier zu verteidigen. Wie alt der Geruch wohl sein mochte? Suieen wünschte sich, Yuukas feine Nase zu haben, um feststellen zu können, wann und wie lange der Faon im Keller gewesen war. Aber seine Gefährtin wartete geduldig hinter dem Schuppen, um sich ein Grionkalb zu holen, während er sein Glück im Keller versuchen wollte. Obwohl sie es wesentlich länger als er ohne Nahrung aushalten konnte, hatte auch Yuuka in den letzten Tagen immer wieder sehnsuchtsvoll zu den Herden der Bauern geschielt und mit einem tiefen Grollen die Anwesenheit der Faons
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