Sayuri
ergreifen, wenn sie sicher war, dass er entkommen konnte.
»Übertreib es nicht«, warnte er seine Freundin keuchend. Dann rannte er auf die Felsen zu, die sich in der Nähe des Hofes erhoben.
Zwischen den Felsen scharrte der Greif unruhig mit den klauenbesetzten Vorderfüßen. Als er Suieen sah, lief er ihm einige Schritte entgegen, entfaltete die mächtigen Adlerflügel und berührte mit den Spitzen den Sandboden, sodass Suieen sich, ohne in seinem Lauf innehalten zu müssen, auf seinen Rücken schwingen konnte. Sicher kam er hinter den Flügeln auf dem Rücken des riesigen Tiers zum Sitzen und legte die Hände an die Ansätze der Flügel, um sich festzuhalten. Seine Tasche stellte er vor sich, dorthin, wo die Federn in Fell übergingen. Der Greif war, wenn er mit allen vieren auf dem Boden stand, größer als ein ausgewachsener Mensch. Wenn er sich jedoch auf die Hinterbeine stellte und die Flügel drohend ausbreitete, überragte er gar ein einstöckiges Haus.
Als der Bauer den Greif sah, hielt er inne. Er war lediglich mit einer Fackel bewaffnet und damit konnte er diesem Tier nicht gefährlich werden. Der Greif schlug einige Male mit seinen Flügeln kraftvoll durch die Luft, dann machte er ein paar Schritte auf den Bauern zu und erhob sich in sein Element. Ein Faon sprang ihm nach und hätte beinahe einen Flügel erwischt, aber der Greif gewann schnell an Höhe.
Yuuka, die von mehreren Faons angefallen worden war und sich mit aller Macht wehrte, sah den Greif und stieß ein triumphierendes Fauchen aus. Ihr Kalb hatte sie fallen lassen, um sich besser zur Wehr setzen zu können. Jetzt warf sie sich auf den Rücken, um die Faons loszuwerden, die ihr in den Nacken gesprugen waren, und schlug mit ihren Schwänzen wild peitschend um sich. Als sie sich wieder aufrichtete, packte sie das Kalb im Nacken und machte sich mit ihrer Beute aus dem Staub, während die Wüstenhunde sich laut heulend ihre Wunden leckten.
Suieen dirigierte den Greif zu einer Anhöhe, die er mit Yuuka als Treffpunkt vereinbart hatte. Das Wüstengeschöpf stieß einen triumphierenden Schrei aus, flog in einem Bogen über das Bauernhaus und steuerte die kleinen Hügel an, die sich in einiger Entfernung erstreckten.
Suieen genoss den Flug. Die Sonne versank als roter Feuerball am Horizont und tauchte die Welt in ihre lodernden Farben, während aus der entgegengesetzten Richtung bereits die Nacht ihre Finger nach der Ebene ausstreckte. Die Luft war angenehm warm auf seiner Haut und das Rauschen des Windes und der schlagenden Flügel erfüllte Suieen mit einem Gefühl des Übermuts, wozu auch der gelungene Diebstahl beitrug. Zufrieden griff er in seine Tasche und zog eine Berensfrucht hervor. Zu viele Tage hatte er sich von den wenigen Wurzeln, die man in der Wüste noch fand, ernähren müssen.
Unter ihm zogen die letzten Felder der Bauern vorbei und machten einer öden, hügeligen Landschaft Platz, die bald in eine flache Sandwüste übergehen würde, die sich bis zu den Gebirgen im Westen zog. Sehnsuchtsvoll sah er zur untergehenden Sonne, dorthin, wo einmal seine Heimat gelegen hatte. Entschlossen wandte er den Blick ab und biss in die Berensfrucht, um den schalen Geschmack der Erinnerung zu vertreiben.
Unter ihm rannte Yuuka. Ihre Pfoten wirbelten den Sand auf, ihr schlanker Körper streckte sich bei jedem gewaltigen Satz, mit dem sie die Distanz zwischen sich und ihren Verfolgern immer weiter vergrößerte.
Im nächsten Moment setzte der Greif zur Landung an. Es fühlte sich an, als würde das Tier über seine eigenen Beine stolpern, bis es sein Gleichgewicht fand und auf den verschiedenen Füßen zum Stehen kam.
Suieen ließ sich von seinem Rücken gleiten und zog eine Berensfrucht aus dem Beutel, um sie dem Greifen anzubieten. Der Greif nahm sie vorsichtig mit dem Schnabel und schlang sie mit einem Bissen herunter. Zufrieden streckte und schüttelte er sich, bevor er die langen Flügel wieder anlegte. Seine Federn schimmerten silberweiß wie der lange, zottige Schweif, während das Fell, das seinen Rücken und die Hinterläufe bedeckte, fast nachtschwarz war. »Danke«, beeilte Suieen sich zu sagen; er wusste, dass der Greif zurück zu seiner Herde wollte.
Für dich jederzeit, antwortete der Greif in seinen Gedanken. Wie alle magischen Wesen beherrschte er die Fähigkeit, in Gedanken mit anderen magischen Wesen zu kommunizieren, auch wenn die Greifen wohl am wenigsten von allen Geschöpfen davon Gebrauch machten. Meist hüllten sie
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