Sayuri
wunderbaren Pflanzen dort oben im rauen Wind, ohne Erde, ohne viel Wasser am Leben erhalten konnte? Hast du nie einen Gedanken daran verschwendet, woher diese fremden Blüten und diese wundersamen Gewächse kommen, all diese Pracht?« Marje zuckte hilflos mit den Schultern. »Ihre Mutter war Kräuterfrau«, sagte sie zögernd. »Ich vermute mal, sie hat ihr beigebracht, wie man …«
Sie stockte. Nein, das war es nicht. Warum hatte sich keiner von ihnen darüber Gedanken gemacht? Warum hatten sie es als selbstverständlich erachtet? Sie selbst hatte gesehen, wie die Pflanzen unter Sayuris Händen aufgeblüht waren, wie Sayuri sie zum Leben erweckt hatte. Das war so gewesen, als würde Sayuri ihnen selbst Wasser spenden.
Sie stöhnte auf, als sie begriff, wo dieser Gedanke hinführte. »Du meinst, sie war es, die der Quelle die Macht entzogen hat?« Marje konnte nicht glauben, dass sie diese Worte laut aussprach. Nein, das konnte nicht stimmen! Das war Unsinn!
Kiyoshi schüttelte den Kopf. »Sie hat nicht der Quelle die Macht entzogen«, sagte er leise. »Sie hat dem Kaiser die Macht entzogen.« Er schwieg für einen Moment. »Ich kenne nur einen Ort in der Stadt, der Sayuris Garten gleicht. Und das ist der Garten des Kaisers, der Ort, an dem er die Quelle am Leben erhält.«
Marje war für einen Moment sprachlos. Wie konnte das möglich sein? Und was hieß das nun für Sayuri?
»Wäre ich nicht gerade in dem Moment aufgetaucht, als du sie aus der Stadt bringen wolltest, dann wäre alles gut«, beantwortete Kiyoshi ihre stumme Frage. »Ihr beide wärt hier draußen in Sicherheit gewesen. Aber ich wollte Sayuri unbedingt finden. Bevor ich zum Tor kam, war ich sogar bei ihrem Haus. Ich hatte … ich habe so viele Fragen an sie.«
In seiner Stimme klang eine derartige Verzweiflung, dass Marje unwillkürlich Mitleid mit ihm verspürte. Ihr Misstrauen und ihre Zweifel verflogen. Sie wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm, aber sie spürte, dass er die Wahrheit sagte.
Aber was hieß das nun für sie? Sie vergrub den Kopf in den Händen. Wenn sie doch nur einen klaren Gedanken fassen könnte! »Wir müssen sie finden«, flüsterte sie. »Jetzt mehr denn je!« Kiyoshi sah sie nur stumm an. Er nickte. »Das müssen wir. Bevor es mein Onkel tut.«
Als sie die Bodensenke erreichten, war der Wüstenwind kalt geworden und die Sonne stand bereits so niedrig, dass ein Teil der Senke im Schatten versank. Ohne sich absprechen zu müssen, trennten sie sich und gingen um die Bodensenke herum, jedes Sandkorn musternd. An der breitesten Stelle konnten sich zwei ausgewachsene Menschen ausstrecken, ohne einander zu berühren. An einer Seite hatte der Wind den Sand gegen einen Felsen geweht, sodass ein relativ hoher Sichtschutz zur Straße hin entstanden war. Der Ort schien ideal, um eine ruhige Nacht zu verbringen.
Vorsichtig stiegen sie die Böschung hinab. Unter ihren Schuhen löste sich der Sand und so rutschten sie mehr in die Tiefe, als dass sie gingen. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, meinte Kiyoshi und warf Marje einen aufmunternden Blick zu.
Die Sonne versank am Horizont. Gerade noch hatten sie im Licht des glühend roten Gestirns gestanden, aber einen Augenblick später hüllte sie die Dunkelheit der Nacht ein.
Marje hörte es rascheln, gleich darauf wurde etwas Schweres auf ihre Schultern gelegt.
»Dein Umhang wärmt ja jetzt eine Schlange«, meinte Kiyoshi. An seinen Schritten konnte sie hören, dass er sich zu der Seite der Senke bewegte, die zur Straße hin lag.
Sie folgte ihm. »Und was ist mit dir?«, wollte sie wissen.
»Ich trage wärmere Kleidung als du«, erwiderte er.
Marje zog den Umhang enger um die Schultern. Sie hatte vorher kaum gemerkt, wie kalt ihr geworden war, und spürte erst jetzt, dass sie fröstelte.
Langsam hatten sich auch ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt und sie sah, wie Kiyoshi sich neben ihr im Sand ausstreckte. Zögernd ließ sie sich in den Sand sinken. Mittlerweile war sie Kiyoshi mehr als dankbar, dass er darauf bestanden hatte, ein Lager für die Nacht zu suchen, auch wenn sie es nicht zugeben mochte. Aber wenn sie jetzt noch auf der Straße gewesen wären, hätte sie jedes Tier, jedes Wesen ohne Weiteres angreifen können.
Noch immer brannte eine Vielzahl von Fragen in Marjes Herzen und auf ihren Lippen, aber sie wagte es nicht, sie zu stellen. Einmal mehr wurde ihr bewusst, dass er der Prinz war, derjenige, der in wenigen Jahren die Herrschaft über die Stadt
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