Sayuri
übernehmen würde.
Das zumindest hatte sie bis vor Kurzem geglaubt. Aber war nicht das, was er für Marje getan hatte, Verrat am Kaiser gewesen? Schon als er ihr im Palast geholfen hatte, hatte er sich gegen seine Familie gestellt. Nur hatte sie ihm da noch nicht über den Weg getraut.
Kiyoshi begann in seiner Tasche zu kramen und zog einen Wasserschlauch hervor. »Du bist doch sicherlich auch durstig«, meinte er und hielt ihr den Schlauch hin.
Marje schüttelte den Kopf. Sie fragte sich, warum der Prinz einen Wasservorrat mit sich trug. Hatte er tatsächlich seine Flucht aus der Stadt geplant? Aber das würde keinen Sinn ergeben. Warum sollte sich jemand freiwillig in diese Ödnis begeben?
Kiyoshi zuckte mit den Schultern und begann zu trinken. Nach einigen Schlucken setzte er den Schlauch ab und verschloss ihn wieder.
In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht kaum ausmachen.
»Kennst du die Geschichten von der Quelle der Weisheit?«, hörte sie ihn plötzlich sagen.
Marje musste lachen. »Wir Taller haben nie die Zeit gehabt, an solchen Unsinn zu glauben. Das ist ein Märchen, etwas, das sich gelangweilte Liganer-Mädchen bei einer Tasse Berenstee erzählen.«
Kiyoshi musterte sie aufmerksam, dann schüttelte er den Kopf.
»Woher nimmst du die Sicherheit zu behaupten, dass es Unsinn ist?«, fragte er. Sein Blick glitt versonnen zum Horizont.
Marje strich sich durch die Haare. Sie waren voller Sand und schon ganz verfilzt. Vorsichtig blickte sie zu ihm, aber er schien die Frage ernst zu meinen. »Glaubst du nicht, dass jemand anders diese Quelle gefunden hätte, wenn es sie denn gäbe? Müsste doch ungeheuer praktisch sein, solch eine Quelle, die alle Fragen beantwortet.«
Kiyoshi zuckte mit den Schultern. »Mein Onkel, der Kaiserbruder, hat die Geschichten über die Quelle jedenfalls ernst genommen.« Er schwieg einen Moment, dann kramte er in seinem Bündel und zog schließlich eine vergilbte Papierrolle hervor.
Die Monde waren inzwischen am Horizont erschienen und verliehen der Wüste um sie herum einen grün-blauen Schimmer.
»Miro hat nach der Quelle suchen lassen«, fuhr Kiyoshi fort und breitete eine Karte aus, doch Marje konnte in der Dunkelheit kaum noch etwas erkennen. »Aber er hat sie nicht gefunden.«
»Weil es sie nicht gibt?«, schlug Marje vor.
»Vielleicht. Aber was, wenn doch?« Seine Stimme klang jetzt verträumt und er rollte das Dokument vorsichtig, als wäre es unendlich kostbar, wieder zusammen und steckte es zurück. »Was, wenn sie auch auf unsere Fragen Antwort wüsste? Wie man die Stadt retten kann? Wie man die Quelle ein für alle Mal stärken kann? Und welches – welches Geheimnis Sayuri umgibt.«
»Sayuri umgibt kein Geheimnis«, widersprach Marje wider besseres Wissen. Noch immer konnte sie nicht glauben, was Kiyoshi ihr über ihre Freundin erzählt hatte, aber wenn sie ehrlich war, wurmte es sie eigentlich nur, dass sie nicht längst selbst erkannt hatte, dass genau das der Fall war.
Kiyoshi schüttelte den Kopf. »Sayuri ist es, die dem Kaiser die Kraft entzieht. Meine Mutter hat es gewusst! Sie hat mich erst auf sie gebracht.«
»Deine Mutter hat dich auf Sayuri gebracht?« Das Ganze wurde immer verrückter.
»Aulis hat heute Morgen von der kleinen Lilie gesprochen, erinnerst du dich? Und später, als du schon fort warst, hat sie mir aufgetragen, das Geheimnis der weißen Lilie zu finden. Erst durch sie bin ich auf den Garten gestoßen.«
Marje schüttelte den Kopf. »Aber woher sollte deine Mutter Sayuri kennen?«
Kiyoshi stöhnte. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Die ganze Zeit.«
Plötzlich fiel Marje etwas ein. Wenn das alles stimmte, was er da sagte, dann hatte Kiyoshis Mutter Marje tatsächlich warnen wollen. Es waren nicht die Verrücktheiten einer verwirrten Frau gewesen! Sie hatte Sayuri wirklich in Sicherheit bringen wollen.
Aufgeregt erzählte sie Kiyoshi, was seine Mutter gesagt hatte, als Marje gerade hatte fliehen wollen.
Als sie geendet hatte, fuhr sich Kiyoshi verzweifelt durch die Haare. »Aber es ergibt einfach keinen Sinn! Das alles ergibt noch immer keinen Sinn.«
»Willst du deshalb die Quelle aufsuchen?«, fragte Marje. »Um den Sinn zu begreifen?«
Sie suchte seinen Blick. Im Schein der Monde wirkten seine Augen dunkel und geheimnisvoll und sein Haar schimmerte wie das glänzende Gefieder eines Vogels.
Kiyoshi zögerte. »Nenn es Schicksal, nenn es Sinn. Alles auf der Welt basiert auf Regeln, die sich nicht von Kaisern und
Weitere Kostenlose Bücher