Sayuri
steckte seinen Dolch zurück in die Scheide. »Die Nacht wird ziemlich kalt werden.«
Marje nickte. Wie kalt es in der Nacht werden konnte, war ihr in diesem Moment ziemlich gleichgültig. Als Kiyoshi versucht hatte, mit dem Dolch ihren Umhang zurückzuholen, hatte sie vor dem inneren Auge schon die Schlange vorschnellen sehen. Der Gedanke, allein in der Wüste sein zu müssen, hatte ihr einen solchen Schrecken eingejagt, dass sie jetzt einfach nur dankbar war, dass Kiyoshi neben ihr ging. Zögernd griff sie nach seiner Hand und er erwiderte die Geste mit einem leichten Händedruck. »Wir schaffen das«, versprach er leise.
Marje schluckte und schwieg. Aufmerksam richtete sie ihren Blick auf den Boden und versuchte, nicht an ihren Umhang zu denken, von dem sie sich mit jedem Schritt weiter entfernte. »Dort können wir die Nacht verbringen«, meinte Kiyoshi plötzlich und deutete auf eine Bodensenke nicht weit vor ihnen. »Falls es dort keine Schlangen gibt«, fügte er noch mit einem vorsichtigen Lächeln hinzu.
Marje nickte und versuchte, ein wenig zu lächeln. Sie fühlte sich unwohl in der Wüste. Die Landschaft kam ihr eintönig und langweilig vor, selbst die Tiere hatten sich in Farbe und Schattierung dem alles dominierenden Sand angepasst. Ihr fehlte das bunte Treiben der Stadt, das satte Grün aus Sayuris Garten. Mit diesen Gedanken kamen auch die Gedanken an ihre Flucht zurück. »Warum haben die Soldaten dich eigentlich verfolgt?«, fragte sie plötzlich.
Kiyoshi wich ihrem Blick aus. »Sie wollten wohl verhindern, dass ich die Stadt verlasse«, antwortete er vage.
Fragend hob Marje eine Augenbraue. »Und warum wolltest du die Stadt verlassen?«, hakte sie nach.
Kiyoshi strich sich unschlüssig die Haare aus der Stirn. »Das ist etwas komplizierter …«, meinte er.
»So kompliziert, dass ein einfaches Taller-Mädchen es wohl nicht verstehen kann«, stellte Marje bissig fest. Manchmal vergaß sie, dass Kiyoshi der Erbe Miros war. Zwar war auch er nur ein Mensch, aber durch seine Herkunft und die Gesetze der Stadt war er zu etwas Höherem auserwählt als sie. Nie im Leben hätte sie geglaubt, mit dem Neffen des verhassten Kaisers einmal Seite an Seite die Wüste zu durchqueren.
»So war das nicht gemeint«, entgegnete Kiyoshi entschieden. »Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll.«
»Am Anfang«, schlug Marje bissig vor. »Mit der Wahrheit.« Sie dachte an all die Momente, in denen sie sein Handeln nicht verstanden hatte. »Wieso bist du plötzlich bei Sayuri im Laden aufgetaucht?«, fragte sie.
Kiyoshi seufzte. »Dann muss ich wohl bei unserer ersten Begegnung anfangen«, meinte er. »Die ja … nun ja, etwas stürmisch war.«
Marje erwiderte seinen Blick. »Tut mir leid«, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Was?«, fragte Kiyoshi neugierig. »Dass du mich angegriffen oder dass du nicht besser getroffen hast?«
Wider Willen musste Marje lächeln. »Ersteres«, antwortete sie. Seine Art machte es ihr einfach zu antworten, obwohl sie sich bei der Erinnerung an das Geschehene unwohl fühlte. »Was du mir da an den Kopf geworfen hast …«
»Das tut mir auch leid«, unterbrach Marje ihn.
Kiyoshi lachte trocken auf. »Nein, du hattest recht«, widersprach er. »Zumindest teilweise. Erst nach unserer Begegnung fing ich an nachzudenken. Die Worte meines Onkels anzuzweifeln. Es ging nicht um alle Sechzehnjährigen in der Stadt, es ging nur um eine einzige Person.«
Verwundert hob Marje den Kopf.
Kiyoshi holte tief Luft und atmete langsam aus, als wollte er sich damit Zeit zum Nachdenken verschaffen.
»Wie lange kennst du Sayuri schon?«, fragte er dann leise.
Marje zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Seit ich denken kann.
Ich und Milan …«, sie stockte, »wir haben uns immer um sie gekümmert. Aber wir waren nicht die Einzigen. Jeder mag Sayuri. Sie ist … sie ist etwas ganz Besonderes.«
»Das ist sie ganz bestimmt«, flüsterte Kiyoshi.
Marje musterte ihn misstrauisch. »Was willst du damit sagen? Du kennst sie doch gar nicht richtig! Und was meinst du damit, dass es nicht um alle Sechzehnjährigen in der Stadt ging?« Marje hörte, wie ihre Stimme sich hob.
»In Wahrheit ging es nur um einen von ihnen.« Kiyoshis Stimme blieb ruhig. »Genauer gesagt um eine.«
Marje blieb abrupt stehen. »Du meinst …?«
»Ja«, antwortete er und wandte sich ihr zu. »Sayuri.« Er zögerte. »Du kennst ihren Garten, oder? Hast du dich nie gefragt, wie sie all diese
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