Sayuri
»Hättest du dich in den sicheren Tod gestürzt. Denn von einem Wagen mit sechs Grions in voller Fahrt herunterzuspringen – das wäre der sichere Tod gewesen, glaub mir.«
Diese Gelassenheit und die Tatsache, dass er vermutlich recht mit dem hatte, was er sagte, machte sie wahnsinnig. »Wenn du nicht gewesen wärst, dann wären die Wachen gar nicht erst auf uns aufmerksam geworden!«, fauchte sie.
Kiyoshi stand nur stumm da und sah sie an, wartete ab, als hoffte er, sie würde sich gleich beruhigen. »Wir können jetzt nicht zurück«, sagte er schließlich. »Es ist zu weit und es wird bald dunkel.«
Marje drehte sich zu dem Stadttor um. Als sie schließlich von dem Karren hatten abspringen können, war das Tor nicht mehr als ein Schatten in der Landschaft gewesen, die Menschen, die Grions und die Karren nur noch Spielfiguren auf der weiten Ebene. Sie wusste nicht, wie lange sie in rasendem Tempo über die holprige Wüstenstraße gefahren waren, bis der Bauer endlich seine Zugtiere gezügelt hatte, um in eine Nebenstraße abzubiegen.
Zu lange, so viel stand fest.
Wieder sah sie ihn an. In seinen grünen Augen stand Hilflosigkeit.
»Ich gehe zurück!« Entschlossen drehte sie sich um und stiefelte auf den kleinen Punkt zu, der das Tor war. Sofort konnte sie seine Schritte hören und seine Hand griff nach ihrem Arm. »Lass uns doch erst einmal überlegen, wie wir am besten vorgehen«, widersprach er.
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, fuhr sie ihn an, als sie zu ihm herumwirbelte. Trotz aller Angst und Wut war sie dankbar dafür, dass er sie nicht einfach gehen ließ. Wie absurd das Ganze war!
»Sie wäre in ihrer Wohnung viel sicherer gewesen«, flüsterte sie leise.
»Wäre sie nicht«, widersprach Kiyoshi.
Seine Stimme alleine ließ in ihr wieder dieses Gefühl der Ohnmacht aufwallen. Seit sie ihm begegnet war, kam es ihr so vor, als würde all das, woran sie bisher geglaubt hatte, in sich zusammenbrechen. Erst die Bekanntgabe, dass die Sechzehnjährigen aus der Stadt verbannt wurden, dann wurde Milan festgenommen und hingerichtet und jetzt war Sayuri verschwunden. Sie stand alleine in der Wüste und in der Stadt wusste niemand, wo sie war. Ihre Freunde würden glauben, die Soldaten des Kaisers hätten sie erwischt und verbannt. Sie würden um sie trauern, sie vermissen. Aber sie würden nicht nach ihr suchen können. Die Tränen suchten sich ihren Weg über ihre Wangen.
»Sayuri …«, begann Kiyoshi vorsichtig.
Marje schluchzte auf. »Verschwinde!«, befahl sie ihm und wandte sich von ihm ab. »Ich will nichts hören. Kein Wort!« Warum war sie mit Sayuri nicht in der Stadt geblieben? Die Idee, hier draußen bei einem Bauern um Arbeit zu fragen, erschien ihr auf einmal völlig absurd. Es gab so viele, die in den letzten Tagen aus der Stadt vertrieben worden waren – niemand würde ihr eine Arbeit geben!
»Wir sollten nicht auf der Straße bleiben«, brach Kiyoshi nach einer Weile das Schweigen. »Das könnte gefährlich sein.«
»Ich hab gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen«, sagte Marje tonlos. Ihr fehlte die Kraft, ihn anzuschreien. Sie wandte ihm den Rücken zu und ließ sich in den heißen Sand sinken. Noch immer liefen ihr die Tränen über die Wangen. Ihr Blick war auf die Stadt gerichtet und ihr war, als würde sie auf einen Trümmerhaufen blicken. Der Gedanke an Milan nahm ihr beinahe den Atem, so weh tat es. Sie hatte versagt. Aber das vielleicht Schlimmste war, dass sie ihm nicht einmal seinen letzten Wunsch hatte erfüllen können.
Die Stadt verschwamm unter dem Schleier ihrer Tränen, löste sich auf wie ein Bild, auf das Wasser gekippt wurde und dessen Farben ineinanderverliefen. Wenn sie trockneten, war nichts mehr zu erkennen, nur noch Fragmente, Zerrbilder von dem, was einst ihr Leben gewesen war.
Milan wüsste, was jetzt zu tun ist, dachte sie bitter. Er hätte eine Antwort für sie gehabt, hätte einen Weg gefunden. Ohne zu zögern, wäre er aufgebrochen und hätte alles getan, bis sie wieder zusammen gewesen wären. Aber sie saß einfach nur da, völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Marje …« Kiyoshi räusperte sich, aber dann brach er doch wieder ab, als hätte ihn der Mut verlassen.
Marje ließ den Kopf einfach auf die angezogenen Knie sinken und starrte die Stadt in der Ferne an, als könnte Sayuri plötzlich irgendwo am Horizont auftauchen und mit einem Lächeln all ihre Sorgen beiseitewischen.
»Komm.« Kiyoshis Hand erschien in ihrem
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