Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
Sekretariat auf. Also hat Mikael mich in den Tagen, in denen er wie vom Erdboden verschluckt schien, im Auge behalten? Ich zügele meine Fantasie, ehe sie noch ganz mit mir durchgeht.
26
D as Knarren des Schaukelstuhls begleitet sanft meine Gedanken. Um mir Platz zu schaffen, habe ich einen Teil meiner Stofftiere, die sonst hier sitzen, ausquartiert. Ein paar halte ich im Arm, während eine Giraffe, der ein Knopfauge fehlt, auf den Boden gefallen ist.
Am Nachmittag habe ich Edoardo bei den Neuzugängen geholfen. Ich habe mir zwei neue Bücher ausgesucht und die zurückgegeben, die ich schon gelesen habe.
»Hast du sie wirklich gelesen?«, hat er mich erstaunt gefragt.
»Sicher.«
Edoardo konnte es nicht glauben: »Das mögen ja Klassiker von unbestreitbarem Wert sein, aber trotzdem bleiben es ziemlich dicke Wälzer.«
»So was verspeise ich zum Frühstück«, habe ich ihm geantwortet.
Auf dem Federbett erwartet mich Der kleine Prinz . Er streitet sich mit der Kameliendame , weil er zuerst gelesen werden will. Wahrscheinlich werde ich ihm nachgeben. Obwohl mir Edoardo gestanden hat, als ich mir die Kameliendame ausgesucht habe, dass er mit Kamelien das Herz seiner Frau erobert hat.
Ich hebe die Giraffe auf, und mit dem Kopf voller Erinnerungen verlasse ich den Schaukelstuhl. Am Himmel zeigt sich schüchtern das erste Stück Mondsichel. Im Geiste sehe ich Mikaels Augen wieder vor mir. Sie hatten mich einen Moment lang verlassen, aber da sind sie wieder und drängen sich fordernd in meine Gedanken.
Der Duft seiner Haut streichelt meine Nase. Wir stehen wieder da, er und ich, nur einen Atemzug voneinander entfernt, hinter dem purpurroten Vorhang, den der Wind bläht. Mikael geht mir durch und durch, seine bloße Anwesenheit verwirrt mich, bringt meine Sinne durcheinander und füllt mich aus. Er berührt mich, und ich spüre, wie meine Knie weich werden, er sagt etwas, und ich bin im siebten Himmel.
Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich bin liebeskrank, so hat es Edoardo heute genannt.
Mikael und seine Geheimnisse. Wie viele Rätsel verbergen sich hinter seiner vollkommenen Fassade?
Als er Vanzi überzeugt hat, meine Verspätung zu entschuldigen, hat der doch glatt gelacht! Tagelang sehe ich ihn nicht, dann taucht er plötzlich auf. Aber wenn es stimmt, dass er mich von Weitem bemerkt hat, hätte ich ihn doch auch sehen müssen! Jemanden wie ihn kann man nicht übersehen, schon weil er immer Schwarz trägt. »Du bist beim Gehen immer so in Gedanken versunken«, hat er mit tiefer Stimme gesagt. Da kann ich ihm nicht widersprechen. Aber das ist ganz allein seine Schuld.
Ich seufze. Draußen regnet es in Strömen. Ich lausche dem Regen, der gegen die Fensterscheibe des Zimmers trommelt.
27
D er grüne Grasteppich der Wiese ist mit welken Blättern übersät. Sie knirschen, jedes auf eine andere Art. Wir sitzen im Schneidersitz auf einer Tweeddecke, wie Schiffbrüchige auf einem Floß, verloren in einem bunten Blättermeer.
»Der Herbst macht mich immer melancholisch«, meint Cat seufzend.
»Warum? Ich liebe alle Jahreszeiten. Wenn immer Sommer wäre, würdest du am Ende den blauen Himmel hassen und die Grillen und die schwüle Hitze verfluchen. Der Herbst hat seinen ganz eigenen Charme. Er ist geheimnisvoll, bringt Pilze und Wein und drängt zur Selbstreflexion.« Genziana gestikuliert lebhaft beim Reden. Ihre Armreife klirren, und in ihren roten Haaren kann man die kräftigen Farbtöne der herabgefallenen Blätter erahnen.
»Ich neige tatsächlich zurzeit sehr zur Selbstreflektion.« Meine Stimme muss irgendwie verträumt geklungen haben, denn alle sehen mich an und schütteln einstimmig die Köpfe. »Was ist denn?«, frage ich ungeduldig.
»Ich glaube, daran ist nicht der Herbst schuld, sondern ein gewisser Typ, der dich kürzlich in die Klasse begleitet hat«, unterstellt mir Caterina.
»Der Flurfunk erzählt, ihr hättet mit Versuchsproben und Material aus dem Labor herumgespielt«, fügt Genziana hinzu.
Sie lachen gemeinsam laut los, und ich versuche, die beleidigte Leberwurst zu spielen, aber dann stimme ich mit ein: »Ihr blöden Kühe!«
Caterinas Gesicht wird plötzlich wieder ernst. Sie zupft ihren Rock zurecht und lächelt jemandem zu, der hinter mir steht.
»Hallo, Mädels.« Das ist Umberto. Ich hätte es dem verträumten Ausdruck von unserem Rehauge ansehen müssen.
»Hallo«, antworten wir ihm alle drei wie aus einem Munde.
»Jetzt reicht’s aber mit der Harmonie, was?«, brummt
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