Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
lebendig gefühlt. So lebendig, dass mir schon bei einem Sonnenuntergang die Tränen kommen. Was ist nur mit mir los?«
Edoardo sieht mich an und lächelt. Die Bücher hinter ihm sind stumme Zeugen meiner Beichte.
»Du bist krank, so viel steht mal fest.«
»Ist es schlimm?«
»Schlimmer als du glaubst.«
»Wirklich? Und was habe ich?«
»Du bist verliebt. Die älteste Krankheit der Welt.«
Seine Worte durchbohren mich wie ein Messer. Ist das die Bezeichnung für etwas, dem ich seit Tagen auszuweichen versuche?
Edoardo wendet sich ab, und seine Finger gleiten zärtlich über die Buchrücken. Das habe ich zwar schon oft beobachtet, aber trotzdem habe ich mich noch nicht daran gewöhnt. Ich weiß, was jetzt geschehen wird: Er wird der Stimme der Bücher lauschen und eines auswählen. Dann wird er zufällig eine Seite aufschlagen und das Urteil verkünden. Und ich werde wieder einmal überrascht mit offenem Mund dastehen, weil die Stimme der Bücher sich nie irrt.
Er zieht einen purpurroten Band heraus. Die goldenen Schnörkel auf der Vorderseite bilden kostbare Ornamente. Ich habe noch nie ein so prächtiges Buch aus der Nähe gesehen, und ich präge es mir genau ein. Es gibt Momente, in denen man ahnt, dass ein bestimmtes Erlebnis für den Rest des Lebens bedeutend sein wird und dass man es nie vergessen wird. Und das ist so ein Moment.
»Der Weg zur Erkenntnis führt manchmal durch Schmerzen«, liest er. »So ist das mit dem Erwachsenwerden, Scarlett.« Seine Augen wandern zurück zu dem Buch, und seine Stimme klingt leiser und modulierter: »Aber wenn du mutig und treu deinen Weg verfolgst, wirst du kommen, wohin du willst.«
Mir verschlägt es die Sprache. Wie gern würde ich solche Worte manchmal von meinen Eltern hören. Das Erwachsenwerden ist ein schwieriger Weg, besonders wenn zu Hause alles durcheinandergeht.
»Danke, Edoardo. Du warst mir eine große Hilfe … wie immer.«
»Bedank dich bei dem Buch, seine Stimme hat gesprochen, ich bin nur das Sprachrohr.«
»Ich verspreche dir feierlich, dass ich heute Nachmittag mit gutem Willen bewaffnet in die Bibliothek zurückkomme, um die Neuerwerbungen zu katalogisieren.«
»Jedes Versprechen ist eine Schuld.«
»Und ich begleiche meine Schulden.«
»Vielleicht willst du auch nur die Erste sein, die unter den Neuheiten wählen darf?«
Ein Lächeln verrät meine Hintergedanken. »Na gut, du hast mich durchschaut!«
Es wird Zeit, zurück ins Klassenzimmer zu gehen. Das Klingelzeichen zum Stundenbeginn überrascht mich im ersten Stock auf dem Flur. Vor mir tauchen zwei dunkle Silhouetten auf, die sich mit schnellen, beinahe schwerelosen Schritten schnell vorwärtsbewegen. Rechts geht Vincent, der Sänger von den Dead Stones. Er trägt ein zerrissenes schwarzes T-Shirt, unter den aufgerollten Ärmeln blitzen die Tätowierungen hervor, dazu Röhrenjeans und Lederstiefel.
Seine schwarzen, wütend zusammengezogenen Augen bohren sich in meine. Ein Raubtier bereit zum Angriff. Ich halte seinem Blick nicht stand, daher sehe ich mir seine Begleiterin an: ein wunderschönes Mädchen mit einer so durchsichtigen Haut wie eine Porzellanpuppe. Violette Augen mit blauen Sprenkeln, die in der schwarzen Schminke ihrer Smokey Eyes versinken. Ein Pagenkopf aus glänzenden, tiefschwarzen Haaren, der stufenförmige Pony ruht auf den Augenbrauen wie die Schwingen eines Raubvogels. Sie ist schlank und bewegt sich trotz der schweren Springerstiefel mit der Anmut einer Ballerina. Jetzt erkenne ich sie: das Mädchen, das mir nach dem Konzert im Backstagebereich aufgefallen ist!
Die beiden treten auseinander. Ich gehe zwischen ihnen durch und spüre ihre anklagenden Blicke auf mir. Vincent prallt gegen meine Schulter, sodass ich beinahe das Gleichgewicht verliere. Ich suche in seinen Augen nach einer Erklärung, aber als einzige Antwort ziehen sich die Pupillen wie Stecknadelköpfe zusammen. Als wollte mich sein Blick zu Asche verbrennen.
Die Unbekannte beschränkt sich darauf, mich mit unergründlichem Blick zu mustern. Verwirrt gehe ich an ihnen vorbei. Warum ist Vincent wütend auf mich?
25
S carlett, vielleicht hilft dir ein kleiner Spaziergang, deine Konzentration wiederzufinden. Heute Morgen kommst du mir etwas abwesend vor.« Die Zini lächelt mich freundlich an.
»Verzeihung«, stammele ich. Vanzi wäre nicht so verständnisvoll gewesen. Er ist immer distanziert, siezt uns, und wenn er mit uns redet, runzelt er seine Menschenfresser-Augenbrauen: »Fräulein
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