Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
Castoldi! Würden Sie bitte die Güte haben und von dieser Wolke herabsteigen, auf der Sie seit sechsundzwanzig Minuten verweilen? Falls Sie es von dort oben noch nicht bemerkt haben, wir haben Unterricht.«
»Ich brauche jemanden, der mir ein paar Unterlagen aus dem Sekretariat holt. Es handelt sich um einen gelben Umschlag, auf dem mein Name steht. Meinst du, du schaffst das?«
Auch heute ist die Zini wieder leicht gothicmäßig gestylt: lange Ohrhänger mit Federn und ein pechschwarzes Kleid.
»Sicher.« Anscheinend ist meine Unaufmerksamkeit doch aufgefallen. Ich denke einfach nur noch an ihn . Vielleicht schaffe ich es ja, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen, wenn ich vermeide, seinen Namen zu nennen.
Der Flur ist leer, ich hole die Sternenkugel aus der Hosentasche und singe halblaut vor mich hin. Die langen verlassenen Flure versetzen mich in leichte Unruhe. Dumpf und düster hallt das Echo meiner Schritte: bum, bum, bum . Ich denke an das Mädchen mit den violetten Augen. Trotz der Springerstiefel hat sie sich völlig geräuschlos bewegt, geschmeidig und anmutig, mit einer Zartheit, die sich auch in ihrem Gang ausdrückte. Könnte sie Mikaels Freundin sein? Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Vielleicht ist sie ja Vincents Freundin. Oder seine Schwester …
Dieser Typ hat etwas Beunruhigendes an sich, da hat Caterina schon recht. Und außerdem scheint er aus einem mir unerklärlichen Grund etwas gegen mich zu haben.
Das Sekretariat liegt am hinteren Ende des Flurs. An den Fenstern im Erdgeschoss hängen schwere, altmodische Vorhänge. Sie sind genauso blutrot wie die, die mir im oberen Stockwerk der Bibliothek aufgefallen sind, und verbreiten eine düstere Atmosphäre. Im übrigen Gebäude gibt es keine Vorhänge, und durch die großen Fenster dringen die Sonnenstrahlen frech herein.
Eine dunkle Gestalt packt mich und zieht mich hinter den Vorhang, der Albtraum ist wahr geworden.
Ich will schreien, aber eine Hand hält mir den Mund zu. Ich bin wie gelähmt vor Angst.
Mein Herzschlag beruhigt sich, als ich in Mikaels Eisaugen schaue. Sein Körper an meinem. Die Hand löst sich und gleitet an meiner Seite herunter.
»Ich glaube kaum, dass du denen begegnen möchtest«, flüstert er.
Ich schiebe den Vorhang gerade so weit zur Seite, dass ich in der Ferne Lavinia und Sofia auftauchen sehe, mit düsteren Gesichtern und dem üblichen glitzernden Lippenstift.
»Woher wusstest du …?«
»Ich war im Sekretariat und hatte dort das zweifelhafte Vergnügen, auf sie zu treffen.«
»Ich scheine diese beiden Barbiepuppen ja geradezu anzuziehen«, flüstere ich. Wir stehen so eng beieinander, dass ich mich in seinen Atem versenken könnte.
»Vielleicht, weil du ihnen nicht aus dem Kopf gehst. Sie redeten gerade über eine gewisse Scarlett, die mit jemandem flirtet, mit dem sie es besser nicht tun sollte. Einem gewissen Umberto, wenn ich mich nicht irre …«
Ich erröte vor Scham. »Aber das stimmt nicht, ich …«
Er legt ganz zart seinen Zeigefinger auf meine Lippen, und ich bemerke, dass die Lavinia-Girls genau in dem Moment an uns vorbeikommen. Die plötzliche Berührung, seine Augen, die sich in meine versenken. Eine Flut von Emotionen. Ich halte den Atem an, meine Beine geben nach. Um nicht umzukippen, muss ich mich auf seinen Arm stützen. Aber nur ganz kurz, dann löse ich mich errötend wieder. Das ist zu viel, ich halte das alles nicht aus … Ich drehe mich zur anderen Seite.
»Was wolltest du hier?«, frage ich ihn. Auch diesmal kommen mir die Worte abgehackt wie ein unterdrückter Schluckauf aus dem Mund.
»Ich habe dich von Weitem gesehen. Du bist beim Gehen immer so in Gedanken versunken. Ich kam aus dem Sekretariat und habe gedacht, dass du den beiden bestimmt nicht begegnen willst.«
»Und damit lagst du völlig richtig.«
Ich will ihn tausend Dinge fragen, möchte seinen Atem in mich einsaugen und mich in der Melodie seiner Stimme verlieren. Doch Mikael kommt mir zuvor: »Heute bist du nicht bei Black gewesen. Er hat mir zugemaunzt, ich solle dir ausrichten, dass du ihm fehlst.«
Er verlässt unser Versteck und geht. Wieder einmal komme ich mir unglaublich dumm vor. Mit dem Vorhang über dem Kopf, unschlüssig, ob ich jetzt ins Sekretariat gehen oder den ganzen Tag hier stehen bleiben soll, um an ihn zu denken und den Platz anzustarren, an dem er gerade noch gestanden hat.
Ich entschließe mich, die Geduld der Zini nicht überzustrapazieren, und mache mich in Richtung
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