Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
Moment auf den anderen scheint er Lichtjahre entfernt zu sein. Mittlerweile sollte ich eigentlich an seine plötzlichen Stimmungsschwankungen gewöhnt sein, aber ich würde ein Vermögen dafür geben, um zu erfahren, was ihm jetzt gerade durch den Kopf geht.
»Okay, dann bis später«, murmele ich und wende mich ab. Ich spüre, wie er meine Hand ergreift und mich schwungvoll herumwirbelt. Er sagt nichts, wir sehen uns nur wortlos in die Augen. Mein Blick versinkt in seinem, das ist alles, was ich brauche.
Einen Moment lang kommt es mir so vor, als wollte er noch etwas sagen, stattdessen gibt er sanft meine Hände frei. »Bis später.«
Verwirrt finde ich mich im Gang wieder. Wie kann Mikael nur so eine Wirkung auf mich ausüben?
»Scarlett, warte auf mich.« Ofelia ruft mich, sie trägt ein schwarzes Spitzentutu zu an einigen Stellen eingerissenen Netzstrumpfhosen und an den Füßen schwere Halbschuhe mit Stulpen darüber.
Ich lächle ihr zu, glücklich, dass ich nicht allein bleiben muss.
»Ofelia! Komm zurück!« Vincent lehnt sich aus der Tür der Garderobe, die Schminke um seine wutverzerrten Augen ist verwischt.
Sie wirft ihm einen bösen Blick zu, dann wendet sie sich wieder mir zu. »Gehen wir«, sagt sie.
»Aber …«
»Mach dir keine Gedanken. Gehen wir einfach.«
Ich bin völlig verwirrt.
Bum! Vincent hat seine Faust so fest in den Türrahmen gerammt, dass im Holz der Abdruck seiner Fingerknöchel zurückbleibt. Ich fahre erschrocken zusammen. »Ich möchte nicht, dass ihr meinetwegen streitet.«
»Der kriegt sich schon wieder ein.« Ofelias Ton ist eindeutig, sie duldet keinen Widerspruch.
Wir gehen in den Veranstaltungsraum, ein rechteckiger Saal mit einer Bühne und einer langen Theke. An den Wänden stehen ein paar kleine Sofas, der Rest ist Tanzfläche. Hintergrundmusik in gemäßigter Lautstärke empfängt uns. Der Klub ist schon voll besetzt, alle warten gespannt darauf, dass das Konzert beginnt.
Gleich werde ich die Dead Stones zum zweiten Mal live erleben. Ihr erstes Konzert war unvergesslich. Wird sich dieser Eindruck jetzt, wo ich Mikael kenne, noch steigern? Ich habe Angst, von meinen eigenen Gefühlen überwältigt zu werden.
»Wollen wir was trinken?«
»Okay.«
»Eine Cola«, bestelle ich beim Barmann.
Ofelia flüstert ihm etwas ins Ohr, und wenig später stellt er uns zwei Gläser hin, ohne den Geldschein zu nehmen, den ich auf die Theke gelegt habe.
»Was hast du zu ihm gesagt?«, frage ich verwundert.
Statt einer Antwort schenkt sie mir nur ein stummes Lächeln. Ofelia ist wirklich wunderschön! Sie bewegt sich so majestätisch, weiblich und geschmeidig. Ach, hätte ich doch nur einen kleinen Teil von ihrer Ausstrahlung, damit wäre ich schon zufrieden.
Sie nippt an einem roten dickflüssigen Getränk. Was das wohl sein mag?
»Heidelbeersaft«, antwortet sie mir. Ungläubig starre ich sie an. Ich hatte sie gar nichts gefragt! Anscheinend kann auch sie meine Gedanken lesen. Oder vielleicht bin ich tatsächlich so leicht zu durchschauen.
»Dead Stones, Dead Stones, Dead Stones!« Der fordernde Sprechchor der Menge verlangt nach dem Auftritt der Band. Wie viele Leute hier sind! Wenn ich das in der Turnhalle schon für eine riesige Menschenmenge gehalten habe, was ist dann das hier? Eine ganze Flut?
Ofelia packt mich bei der Hand und zieht mich in Schlangenlinien hinter sich her durch die Menge. Mal weicht sie aus, mal schiebt sie sich in eine Lücke, und schon gleitet sie weiter. Innerhalb von einer Minute haben wir die ganze Tanzfläche überquert und einen besonderen Platz erreicht: Von dieser etwas erhöhten Stelle hat man einen perfekten Blick auf die Bühne, ohne dass man von der Masse erdrückt oder fortgerissen wird. Die Nebelmaschine sorgt für eine unheimliche Atmosphäre.
»Gleich geht’s los«, sagt meine Begleiterin. Obwohl es so laut ist, kann ich sie ganz klar verstehen. In ihrer Gesellschaft fühle ich mich wohl, im Einklang mit der Welt. Das geht mir sonst nur noch bei einem anderen Menschen so: Mikael.
Jetzt haben sich die verschiedenen Sprechchöre zu einem einzigen vereint, unermüdlich rufen die Fans nach der Band. Tausende Hände und Füße, die rhythmisch zu den Worten klatschen und stampfen: »Dead Stones, Dead Stones, Dead Stones!«
Ein wogendes Meer aus purer Energie.
Klick! Rundum ist auf einmal alles dunkel, nur die Bühne ist taghell erleuchtet, und man sieht Dagon, wie er mit den Stöcken auf die Snaredrum einschlägt.
Und da ist
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