Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
gekleidete Kellnerin mit einem Piercing an der Unterlippe kommt, um unsere Bestellung aufzunehmen.
»Ein Bier, bitte.« Nicht, dass ich das besonders gern mag, wahrscheinlich ist das nur ein blöder Versuch, erwachsener zu wirken.
»Und einen Fruchtcocktail«, sagt Mikael dagegen.
»Mit oder ohne Alkohol?«, fragt die Kellnerin.
»Ohne Alkohol, bitte.«
»Wie bitte?«, frage ich, als wir wieder allein sind. »Sind die Helden der Rockmusik nicht alle schön und verrucht?«
Er lacht laut auf. Ich habe ihn noch nie so viel lachen sehen wie an diesem Tag.
»Ich versuche, ein straightes Leben zu führen.«
Dieses Wort habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört. Es erinnert mich an die Punkbewegung der New Yorker Szene, über die ich mal eine Dokumentation auf MTV gesehen habe. Tätowierte und provozierend gekleidete Jugendliche, die aber jede Form von Drogen ablehnen.
»Ich rauche und trinke nicht. Und natürlich habe ich auch noch nie Drogen genommen. Bis du gekommen bist … meine ganz persönliche Droge. Ich würde gern aufhören, aber das kann ich nicht.« Ohne nachzudenken, gebe ich ihm einen Klaps auf den Arm.
»Wenn dein Laster die Frauen sind, muss ich dich dann vor der Kellnerin beschützen?«
»Nein, danke, wenn sie zudringlich wird, geb ich dir mit einem Pfiff Bescheid.«
Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu, aber er lacht weiter.
Zwei Schluck Bier genügen, und mir wird schwindelig. Oder vielleicht liegt es an seiner Anwesenheit. Jedenfalls lockert sich meine Zunge, und ich erzähle drauflos, von Cremona, von meinen früheren Freunden, von Oma Evelyn und von Mama und Papa, die nur noch streiten. Ich bin so vertieft in diese Geständnisse, dass ich ihm sogar mein kleines Geheimnis offenbare: Sally, die Sternenkugel.
»Es ist schön, dir zuzuhören, wenn du von deiner Familie erzählst.« Seine Stimme klingt leicht brüchig. Vielleicht hätte ich besser geschwiegen. Ich habe zwar meine Probleme, aber immerhin habe ich eine Familie.
»Vincent …«, fährt er dann fort, »… ist ein Halbdämon. Er verfügt über eine außergewöhnliche Kraft und einen sicheren Instinkt. Seine Aufgabe ist es, mir als meine rechte Hand zur Seite zu stehen. Manchmal gewinnt allerdings sein rebellischer Charakter die Oberhand, und es ist nicht immer einfach, mit ihm umzugehen.«
»Er hasst mich.«
»Nein, er hasst dich nicht. Er hat nur … Angst.«
»Angst … Vincent?«
»Er kennt mich gut und weiß, dass ich immer ein äußerst integrer Wächter gewesen bin, einer, der Distanz zu menschlichen Wesen hält und zu Gefühlen, die einem den Verstand trüben könnten.«
»Aber warum muss er an deiner Seite sein?«
»Wir unterliegen sehr strengen Hierarchien und Regeln. Ich muss zugeben, die Beziehung zu ihm ist kompliziert, es gab da ein Ereignis, das alles noch schwieriger gemacht hat … Aber das ist lange her.«
Ich bemerke, dass die Tische neben uns jetzt mit lauter Mädchen besetzt sind. Sie starren Mikael an und kichern und lachen dabei. Sie stoßen sich mit den Ellenbogen an, und ab und zu kann ich eine etwas lautere Bemerkung verstehen, bei der ich am liebsten im Boden versinken möchte. Was macht Mikael hier mit mir, wenn er doch jedes Mädchen haben könnte, angefangen mit denen, die hier sitzen und ihn anstarren?
Er nimmt meine Hände, schließt die Augen, und sofort durchströmt mich eine angenehme Wärme. Sie schließt ein ganzes Universum an Farben und Düften ein, und dort mittendrin schwebt mein Bild. Aber das bin nicht wirklich ich … Oder besser gesagt, nicht das Mädchen, das mir jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickt. Was ich hier sehe, ist ein faszinierendes Mädchen mit einem eigenartigen Leuchten im Gesicht. Der Leberfleck über der Oberlippe ist ein magnetischer Anziehungspunkt. Die Augen schimmern verführerisch wie Perlen.
Mikael lässt meine Hände wieder los, und einen Moment lang bin ich sprachlos.
»Siehst du mich etwa so?«
»Du bist so, Scarlett.«
»Am liebsten hätte ich dein Herz nie wieder verlassen.«
Ein Ruck durchfährt ihn, und er wendet den Blick zur Tür: »Jetzt gehen wir besser.«
Ende des magischen Moments! Die Tür zwischen uns hat sich wieder geschlossen.
61
D er Mond leuchtet uns den Weg. Mikael schiebt stumm mein Fahrrad neben uns her. Ich schaue hinunter auf meine Schuhspitzen.
Dann kann ich meine Gefühle nicht länger zurückhalten. »Ich möchte dir so nah sein, dass wir eins werden«, flüstere ich. »Du hast Angst, ich
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