Scarpetta Factor - Thriller
Karten, die mir fremde Leute schreiben, landen normalerweise bei CNN, wo sich zum Glück andere Leute ihrer annehmen.«
»Ich habe nicht von Fanpost gesprochen, sondern von einer Karte, die sprechen oder singen kann. Keine E-Card. Eine echte.«
»Klingt, als ginge es um jemanden, den du kennst.«
»Es war nur so eine Frage.« Natürlich ging es um jemanden, den er kannte. Einen Patienten. Vielleicht war das der Drache, den er töten musste.
»Nein«, entgegnete sie und öffnete eine E-Mail von ihrem Chef. Sehr gut, er würde bis fünf im Büro sein.
»Wir brauchen nicht weiter darüber zu reden.« Das hieß, dass Benton nicht weiter darüber reden wollte. »Ruf mich an, wenn du abmarschbereit bist«, ergänzte er. »Du hast mir heute gefehlt.«
Benton zog ein paar Untersuchungshandschuhe aus Baumwolle an und nahm ein Kuvert von FedEx und eine Weihnachtskarteaus dem Asservatenbeutel aus Plastik, in dem er sie vorhin verstaut hatte.
Es beunruhigte ihn, dass man ihm diesen unpassenden Weihnachtsgruß hierher ins Bellevue geschickt hatte. Woher wusste Dodie Hodge, die vor fünf Tagen aus dem McLean entlassen worden war, dass Benton sich in diesem Moment im Bellevue aufhielt? Wie war sie überhaupt dahintergekommen, wo er sich befand? Benton war in Gedanken einige Möglichkeiten durchgegangen und grübelte schon den ganzen Tag darüber nach. Dodies Verhalten weckte den Polizisten in ihm, nicht den Arzt.
Vermutlich hatte sie die Fernsehwerbung gesehen, die Scarpettas heutigen Live-Auftritt im Crispin Report ankündigte, und daraus geschlossen, dass Benton seine Frau so kurz vor den Feiertagen begleiten würde. Deshalb hatte Dodie offenbar angenommen, er würde einen Abstecher ins Bellevue machen, wenn er ohnehin in der Stadt war, um nach seiner Post zu sehen. Vielleicht hatte sich ihr psychischer Zustand zu Hause ja wieder verschlechtert. Ihre Schlafstörungen konnten zugenommen haben, oder ihr fehlte die Aufregung, nach der sie süchtig war. Allerdings war Benton mit keiner dieser Erklärungen zufrieden, und so hatten seine Unruhe und sein Argwohn im Laufe der letzten Stunden zugenommen, anstatt nachzulassen. Er machte sich Sorgen, weil Dodies seltsame Geste so gar nicht zu ihr passte. Etwas Derartiges hätte er nie von ihr erwartet, was hieß, dass sie möglicherweise nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hatte. Außerdem machte ihm seine eigene Reaktion zu schaffen, denn die Karte hatte Gefühle und Verhaltensweisen in ihm wachgerufen, die in seinem Beruf nicht hinzunehmen waren. Die Folge war, dass er sich seit einiger Zeit immer fremder wurde.
Der rote Umschlag der Karte war unbeschriftet. Weder Bentons noch Scarpettas oder Dodie Hodges Name stand darauf.Während ihres Aufenthalts im McLean hatte Dodie sich geweigert, zu schreiben oder zu zeichnen. Anfangs hatte sie es auf ihre Schüchternheit geschoben. Dann hatte sie behauptet, die Medikamente, die man ihr im Krankenhaus verabreicht hatte, brächten ihre Hände zum Zittern, sodass sie nicht einmal die einfachsten geometrischen Formen abmalen, Zahlen in einer festgelegten Reihenfolge verbinden, Karten sortieren oder Bauklötze stapeln könne. Fast einen Monat lang hatte sie nichts anderes getan, als sich in Szene zu setzen, Streitigkeiten vom Zaun zu brechen, sich zu beschweren, zu schwadronieren, mit guten Ratschlägen um sich zu werfen, zu spionieren, zu lügen und – manchmal, so laut sie konnte – jeden totzureden, den sie in die Finger bekam. Sie konnte von ihrer dramatischen Selbstdarstellung und ihrem magischen Denken nicht genug bekommen, war der Star in ihrem eigenen Film und gleichzeitig ihr größter Fan.
Es gab keine psychische Störung, vor der Benton mehr graute als vor Theatralik. Nachdem Dodie in Detroit, Michigan, wegen minderschweren Diebstahls und Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen worden war, hatten die Beteiligten alles getan, um sie in der Psychiatrie unterzubringen, und zwar so weit weg wie möglich. Niemand wollte etwas mit dieser aufdringlichen Frau zu tun haben, die in Betty’s Bookstore Café herumgekreischt hatte, sie sei die Tante des Filmstars Hap Judd und stünde auf seiner Geschenkeliste, weshalb es kein Diebstahl gewesen sei, vier seiner Actionfilme auf DVD vorn in ihre Hose zu schieben. Selbst Betty war einverstanden gewesen, die Anzeige zurückzuziehen, solange Dodie niemals wieder einen Fuß in ihren Laden, nach Detroit oder in den Staat Michigan setzte. Die Abmachung lautete, dass sich Dodie mindestens
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