Scarpetta Factor
gerechnet. Heiliger Strohsack! Lanier war das, was er immer noch als Profiler bezeichnete, ein Posten, den auch Benton einmal bekleidet hatte. Nun verstand Marino ein wenig besser, warum sie am Telefon so wortkarg war. Offenbar war das FBI auf einer heißen Spur.
»Wollen Sie damit andeuten, dass sich Quantico mit dem Vorfall am Central Park West beschäftigt?«, versuchte er sein Glück.
»Wir sehen uns später«, lautete ihre Antwort, und damit war das Gespräch zu Ende.
Inzwischen war Marino nur noch wenige Minuten von dem Haus entfernt, in dem Scarpetta wohnte, und zwar auf der Eighth Avenue, auf Höhe der Straßen mit den niedrigen Vierzigernummern im Herzen des Times Square. Überall erleuchtete Anzeigetafeln und bunt strahlende Datenwände, die ihn an das Real Time Crime Center erinnerten. Gelbe Taxis fuhren umher, doch es waren kaum Passanten unterwegs. Marino fragte sich, was der Tag wohl bringen würde. Konnte die Bevölkerung wirklich in Angst geraten und wegen Carley Crispins losen Mundwerks einen Bogen um Taxis machen? Er bezweifelte das sehr. Immerhin war das hier New York. Die schlimmste Panik, die er je hier erlebt hatte, war nicht einmal vom Anschlag am 11. September ausgelöst worden, sondern von der Wirtschaftskrise. Seit Monaten verfolgte er nun schon den Terrorismus an der Wall Street, die katastrophalen finanziellen Verluste und die ständigen Unkenrufe, dass es nur noch schlimmer kommen könne. Keinen Cent mehr in der Tasche zu haben bedeutete eine viel größere Bedrohung als ein Serienmörder, der angeblich in einem gelben Taxi die Straßen unsicher machte. Wer pleite war, konnte sich nämlich keine gottverdammte Taxifahrt mehr leisten und hatte vermutlich größere Angst vor Obdachlosigkeit als davor, beim Joggen eins über den Schädel zu kriegen.
Am Columbus Circle brachte das Schriftband von CNN nun andere Nachrichten, die nichts mit Scarpetta und dem Crispin Report zu tun hatten. Der in der Nacht grellrot leuchtende Text berichtete von Pete Townshend und The Who. Vielleicht berief das FBI ja wegen Scarpettas öffentlicher Schelte eine Sondersitzung ein. Schließlich hatte sie das Erstellen von Täterprofilen als veraltet bezeichnet. Wenn jemand, der so viel Ansehen genoss wie sie, eine solche Bemerkung machte, durfte man das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Obwohl sie es angeblich gar nicht oder nur unter vier Augen geäußert hatte, es aus dem Zusammenhang gerissen und überdies ein Missverständnis war.
Marino fragte sich, was sie wohl wirklich gesagt und gemeint haben könnte, kam aber dann zu dem Schluss, dass die Heimlichtuerei des FBI sicher nicht im Zusammenhang mit Scarpettas Kritik stand. Schließlich war man dort Anfeindungen gewohnt. Insbesondere Polizisten droschen, hauptsächlich aus Neid, gern auf die Feds ein. Wenn all die Unfreundlichkeiten ernst gemeint gewesen wären, hätten die Kollegen sich bestimmt nicht überschlagen, um in Einsatzgruppen des FBI mitmischen oder an Lehrgängen in Quantico teilnehmen zu dürfen. Also musste mehr vorgefallen sein als ein paar rufschädigende Sätze. Marino wurde den Verdacht nicht los, dass es um die Tätowierung und den Mann mit der FedEx-Mütze ging. Es trieb ihn schier in den Wahnsinn, dass er auf die Informationen warten musste.
Er parkte hinter einem gelben Hybrid-Taxi, dem letzten Schrei, denn New York hatte sich dem Umweltschutz verschrieben. Dann stieg er aus seinem schmutzigen, spritschluckenden Crown Victoria und ging ins Foyer. Scarpetta saß auf einem Sofa. Sie trug einen dicken Lammfellmantel und Stiefel, die richtige Kleidung für einen Vormittag, der vermutlich einen Besuch in Rodman’s Neck einschließen würde, denn das lag am Wasser, wo es ausgesprochen windig und kalt war. Außerdem hatte sie die schwarze Nylontasche geschultert, die sie stets zur Arbeit mitnahm und die, ordentlich sortiert, viele wichtige Gegenstände enthielt. Handschuhe, Überschuhe, Overalls, eine Digitalkamera und einen Verbandskasten. Ihr und Marinos Leben wurde von dem Gefühl bestimmt, nie zu wissen, wo man landen oder was man vorfinden würde, weshalb man auf alles vorbereitet sein musste. Obwohl sich auf ihrem Gesicht ein geistesabwesender und erschöpfter Ausdruck malte, lächelte sie ihm dankbar zu. Scarpetta freute sich, dass er gekommen war, um ihr zu helfen, was ihn sehr glücklich machte. Sie kam ihm entgegen, und dann traten sie gemeinsam auf die dunkle Straße hinaus.
»Wo ist Benton?«, erkundigte sich Marino,
Weitere Kostenlose Bücher