Scarpetta Factor
haben. Depression und Gleichgültigkeit , sagte sie sich. Vielleicht war das der Grund .
Inzwischen war Marino mit den Karten fertig. Scarpetta ließ sich von ihm ein neues Paar Handschuhe geben. Die benutzten lagen in einem ordentlichen Haufen auf dem Boden wie die abgefallenen Blütenblätter einer Magnolie. Dann nahm sie die Karte, die auf dem Frisiertisch im Bad gelegen hatte, und testete sie an der Zimmertür. Das Lämpchen blinkte gelb.
»Fehlanzeige«, verkündete sie und probierte es mit der anderen Karte, der vom Couchtisch neben dem BlackBerry. Das Lämpchen leuchtete grün, und die Tür gab ein vielversprechendes Klicken von sich. »Das ist die neue«, stellte sie fest. »Carley hat ihm mein BlackBerry und einen neuen Schlüssel gebracht. Einen hat sie vermutlich behalten.«
»Also war er offenbar nicht hier«, erwiderte Marino, während er mit einem Markierstift einen Asservatenbeutel beschriftete und ihn ordentlich bei den anderen in seinem Koffer verstaute.
Scarpetta erinnerte sich an früher, als er Beweisstücke, die persönliche Habe des Opfers oder polizeiliche Ausrüstungsgegenstände in ein x-beliebiges, gerade verfügbares Behältnis gepackt und den Tatort, zumeist mit einigen braunen Papiertüten aus dem Supermarkt oder alten Pappkartons beladen, verlassen hatte. Seine Ausbeute hatte er dann im Bermudadreieck seines Kofferraums versenkt, der außerdem seine Angelrute, eine Bowlingkugel und einen Kasten Bier beherbergte. Auf unerklärliche Weise war es ihm dennoch gelungen, niemals etwas Wichtiges zu verlieren oder zu verschmutzen, obwohl Scarpetta einige Gelegenheiten einfielen, in denen seine Schlamperei den Ermittlungen nicht gerade dienlich gewesen waren. Seine Unzuverlässigkeit wäre ihm und anderen häufig beinahe zum Verhängnis geworden.
»Sie kreuzt also hier auf und geht zur Rezeption, weil ihr nichts anderes übrigbleibt. Schließlich ist sie auf eine funktionierende Chipkarte angewiesen und will außerdem die Reservierung verlängern. Anschließend fährt sie nach oben, öffnet die Tür und stellt fest, dass der Vogel ausgeflogen ist.« Marino versuchte, Carleys Schritte in der letzten Nacht nachzuvollziehen. »Falls sie nicht auf die Toilette gemusst hat, hat sie das Chaos dort, seine Haare und seine Hörgeräte, vermutlich gar nicht gesehen. Also, ich bin überzeugt, dass sie ihn weder angetroffen noch den Zustand des Badezimmers bemerkt hat. Bestimmt hat sie dein Telefon und eine neue Karte auf den Tisch gelegt und sich rasch über die Treppe verdrückt, weil sie so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen wollte, denn schließlich führte sie etwas im Schilde.«
»Es könnte sein, dass er eine Weile draußen umhergeirrt ist.« Scarpetta dachte an Agee. »Überleg mal. Vergiss nicht, was er vorhatte. Vorausgesetzt, dass er wirklich unser Selbstmörder ist.«
Als Marino seinen Koffer zuklappte, läutete sein Telefon. Nach einem Blick auf das Display reichte er es Scarpetta. Es war ihr Büro.
»Wir haben seine Taschen umgedreht, leer«, meldete Dennis. »Die Polizei hatte ihn schon auf Ausweispapiere, illegale Drogen, eine Waffe und so weiter durchsucht. Einige Sachen haben sie in eine Tüte gesteckt. Ein paar Münzen und ein Ding, das wie eine Fernbedienung aussieht. Vielleicht gehört sie zu einem tragbaren Radio oder einem Satellitenempfänger.«
»Steht der Herstellername drauf?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Siemens.« Dennis buchstabierte.
Es klopfte an der Tür. Marino ging aufmachen, während Scarpetta zu Dennis sagte: »Können Sie feststellen, ob die Fernbedienung eingeschaltet ist?«
»Nun, da ist eine kleine Anzeige, so ein Display.«
Lucy kam herein, gab Marino einen braunen Umschlag und zog ihre schwarze Lederjacke aus. Sie war zum Fliegen angezogen. Cargohose, Militärhemd und leichte Stiefel mit Gummisohlen. Außerdem hatte sie einen dunkelbraunen Rucksack geschultert, den sie stets mit sich herumschleppte, eine Freizeittasche, ausgestattet mit einer Unzahl von Seitenfächern, von denen eines gewiss eine Waffe enthielt. Sie nahm den Rucksack ab, öffnete das Hauptfach und holte ihr MacBook heraus.
»Es müsste einen Anschaltknopf haben«, sagte Scarpetta und beobachtete, wie Lucy ihren Laptop aufklappte. Marino wies auf Scarpettas BlackBerry. Die beiden sprachen so leise, dass Scarpetta nichts verstehen konnte. »Drücken Sie drauf, bis Sie glauben, dass die Fernbedienung ausgeschaltet ist«, wies sie Dennis an. »Haben Sie mir ein Foto
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