Scarpetta Factor
sie mit dem Windex ja einen Spiegel sauber gemacht. Es konnte auch sein, dass jemand anders hier geputzt hatte, in dem Irrglauben, dass er damit Fingerabdrücke und DNA beseitigte. Weniger als zehn Schritte brachten Marino zurück in die Küche. Die Papierhandtücher aus dem Abfall wanderten in einen Asservatenbeutel, um sie auf DNA zu untersuchen.
Toni hatte ihre Frühstücksflocken im Kühlschrank aufbewahrt. Außerdem einige Behälter mit Vollkorn-Buchweizengrütze, noch mehr Sojamilch, Heidelbeeren, verschiedene Käse, Joghurt, Römersalat, Kirschtomaten und eine Plastikschale, die Nudeln mit Parmesansauce enthielt. Entweder stammte sie von einem Imbiss, oder sie hatte sich in einem Restaurant die Reste zum Mitnehmen einpacken lassen. Wann? Gestern Abend? Oder setzte sich die letzte Mahlzeit, die sie in ihrer Wohnung eingenommen hatte, aus einer Schale Frühstücksflocken mit einer Banane, Heidelbeeren und einer Tasse Kaffee zusammen? Frühstück also? Denn heute Morgen hatte sie nicht mehr gefrühstückt, so viel stand fest. Hatte sie gestern ihr Frühstück verspeist, war dann den ganzen Tag unterwegs gewesen und zum Abendessen beim Italiener eingekehrt? Und danach? War sie nach Hause gekommen, hatte die restlichen Spaghetti in den Kühlschrank gestellt und war irgendwann während der regnerischen Nacht joggen gegangen? Marino war neugierig, was Scarpetta bei der Autopsie in Sachen Mageninhalt herausgefunden hatte. Im Laufe des Nachmittags hatte er einige Male versucht, sie zu erreichen, und ihr Nachrichten hinterlassen.
Der Parkettboden knarzte unter Marinos großen, in Stiefeln steckenden Füßen, als er sich umdrehte und ins Wohnzimmer zurückkehrte. Von der Second Avenue hallte Verkehrslärm herauf. Autos hupten, und der Gehweg wimmelte von Passanten. Der ständige Geräuschpegel und das Menschengewühl hatten Toni vielleicht ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelt. Dass sie sich, nur eine Etage über der Straße, isoliert vorgekommen war, kam Marino äußerst unwahrscheinlich vor. Vermutlich hatte sie nach Einbruch der Dunkelheit die Jalousien heruntergelassen, damit niemand in die Wohnung schauen konnte. Laut Mellnik waren die Jalousien beim Eintreffen Bonnells und der Spurensicherung unten gewesen, und es war anzunehmen, dass Toni selbst sie heruntergelassen hatte. Aber wann? Schließlich hatte sie ihre letzte Mahlzeit in dieser Wohnung am gestrigen Morgen eingenommen und nach dem Aufstehen sicher die Jalousien hochgezogen. Offenbar sah sie gern hinaus, denn zwischen den beiden Fenstern standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Der Tisch war sauber. Ein aus Stroh geflochtenes Tischset lag darauf. Marino konnte sich gut vorstellen, wie sie gestern hier gesessen und ihre Frühstücksflocken gegessen hatte. Aber mit heruntergelassenen Jalousien?
Zwischen den Fenstern befand sich auch ein Flachbildschirmfernseher, der mit einem Arm an der Wand befestigt war. Es war ein Samsung mit einer Bildschirmdiagonale von zweiunddreißig Zoll, die Fernbedienung lag auf dem Couchtisch neben dem zweisitzigen Sofa. Marino griff danach und drückte auf »Power«, um festzustellen, welche Sendung sie sich zuletzt angeschaut hatte. Im Fernsehen liefen die Headline News . Der Nachrichtensprecher berichtete über den Mord an einer Joggerin im Central Park, deren Name von den Behörden noch unter Verschluss gehalten wurde. Dann wurde zu Bürgermeister Bloomberg umgeschaltet, der einen Kommentar dazu abgab. Darauf folgte Polizeipräsident Kelly, der die für Politiker oder Behördenleiter üblichen Phrasen drosch, um die Bevölkerung zu beruhigen. Marino hörte zu, bis sich die nächste Meldung mit der Empörung über die Staatshilfe für AIG befasste.
Er legte die Fernbedienung zurück auf den Couchtisch, und zwar genau an dieselbe Stelle wie zuvor, holte seinen Block heraus und notierte sich, auf welchen Sender der Fernseher eingestellt gewesen war. Dabei fragte er sich, ob die Spurensicherung oder Bonnell daran gedacht hatten. Vermutlich nicht. Hatte Toni die Nachrichten verfolgt? War das morgens nach dem Aufstehen ihre erste Handlung gewesen? Hatte sie sich die Nachrichten tagsüber oder abends vor dem Schlafengehen angesehen? Wo hatte sie während der letzten Nachrichtensendung ihres Lebens gesessen? Der Haltearm an der Wand war so gedreht, dass der Fernseher zum Bett zeigte. Es war mit einer hellblauen Überdecke aus Satin versehen. Auf den Kissen thronten drei Stofftiere: ein Waschbär, ein Pinguin und ein
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