Scarpetta Factor
Helfershelfer, der so naiv und übermütig war, dass er keinen Gedanken an eine mögliche Verhaftung verschwendete. Offenbar ahnte Wild nicht, dass man Tätowierungen auch in Datenbanken einspeichern konnte. Möglicherweise war es ihm auch gleichgültig, und Jean-Baptiste dachte anscheinend genauso.
Wild war erst dreiundzwanzig Jahre alt, ein heller Kopf, abenteuerlustig und risikofreudig, allerdings frei von jeglichen Wertvorstellungen oder moralischen Prinzipien. Ein Patriot war er jedenfalls nicht, und sein Land oder die Männer und Frauen, die in dessen Namen kämpften, konnten ihm den Buckel runterrutschen. In die Marines war er aus rein finanziellen Gründen eingetreten. Er war in Camp Pendleton stationiert worden, jedoch nicht lange genug dabeigeblieben, um einen Kameraden fallen zu sehen. Nie war er an Bord einer C-17 gegangen, die ihn in den Nahen Osten bringen sollte, und er hatte nichts weiter getan, als es sich auf Kosten des Steuerzahlers in Kalifornien gutgehen zu lassen. Die Idee zu der Tätowierung mit dem stark symbolischen und ernsthaften Motiv war einzig und allein daraus entstanden, dass er sich eben eine hatte zulegen wollen, solange sie nur »cool« war. So lautete wenigstens die Aussage eines anderen Soldaten, der inzwischen einige Male vom FBI vernommen worden war.
Nachdem Wild seine »coole« Tätowierung hatte, stand der erste Kampfeinsatz an. Davor verbrachte er noch ein Wochenende Urlaub in seiner Geburtsstadt Detroit und kehrte niemals zum Stützpunkt der Marines zurück. Zuletzt war er von einem ehemaligen Mitschüler von der High School gesehen worden, der sich ziemlich sicher war, Wild im Casino des Hotels Grand Palais an den einarmigen Banditen erkannt zu haben. Die Überwachungskameras des Hotels bestätigten, dass es sich tatsächlich um Wild handelte. Er hatte zuerst an den Automaten und dann am Roulettetisch gespielt und war später neben einem gutgekleideten älteren Mann, den das FBI als Freddie Maestro identifizieren konnte, durch den Raum gegangen. Maestro unterhielt mutmaßliche Kontakte zum organisierten Verbrechen und war der Besitzer einiger Etablissements, unter anderem des High Roller Lanes hier in New York. Zwei Wochen später wurde eine Bankfiliale in der Nähe der Tower Center Mall in Detroit überfallen, und zwar von einer dicklichen weißen Frau im Leinenkostüm, die danach zu einem schwarzen Mann in einen gestohlenen Chevy Malibu gestiegen war.
Benton fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen und kam sich ziemlich albern vor. Er musste sein Leben dringend noch einmal gründlich unter die Lupe nehmen, auch wenn der Zeitpunkt jetzt, mitten in einer Sitzung in einem Konferenzraum und in Gegenwart anderer Leute, denkbar ungeeignet war. Es gab nichts daran zu rütteln, dass er sich von einem Gesetzeshüter und Angehörigen der Rechtspflege in einen weltfremden Intellektuellen verwandelt hatte. Eine Bankräuberin war seine gottverdammte Patientin gewesen, und er hatte nichts davon geahnt, weil er nicht die Befugnis besaß, sie zu überprüfen. Es war ihm nicht gestattet, Nachforschungen dahingehend anzustellen, mit wem er es zu tun hatte. Und so hatte er Dodie Hodge nur als unsympathische, schwer gestörte Frau gesehen, die behauptete, die Tante von Hap Judd zu sein.
Doch je länger Benton darüber nachgrübelte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass er selbst bei einer gründlichen Untersuchung nichts hätte herausfinden können, was ihm auch nur einen Schritt weitergeholfen hätte. Er war zornig, fühlte sich gedemütigt und wünschte, er wäre wieder beim FBI, mit Waffe, Dienstmarke und der Macht, alles in Erfahrung zu bringen, was er wissen wollte. Aber du hättest nichts rausgekriegt , sagte er sich, als er in einem Raum, in dem alles vom Teppich bis zu den Wänden und den Sitzpolstern selbstverständlich blau war, an einem Tisch saß. Niemand ahnte etwas, bevor du ihre Fotos an der Wand gesehen hast , hielt er sich vor Augen. Kein Mensch hatte sie erkannt. Eine Durchsuchung der Datenbanken wäre vergeblich gewesen.
Dodie besaß keine besonderen Merkmale wie eine Tätowierung, die man in eine Datenbank hätte einspeichern können. Ihr war noch nie ein schwereres Vergehen zur Last gelegt worden als Randalieren in einem Bus in der Bronx und Ladendiebstahl in Tateinheit mit Erregung öffentlichen Ärgernisses letzten Monat in Detroit. Also gab es keinen Grund unter der Sonne, diese sechsundfünfzigjährige aufdringliche und unangenehme Frau mit einer Serie schlau
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