Scarpetta Factor
interessierte sich für seine Fähigkeit, Serienmörder und Attentäter einzuschätzen. Der Behörde ging es nur um Äußerlichkeiten. Darum, wie ein Mitarbeiter das allmächtige FBI in der Öffentlichkeit vertrat. Er, Warner Agee, war nur ein peinlicher Klotz am Bein. Agee hatte erwidert, er habe Verständnis für Pruitts Haltung und werde selbstverständlich sämtliche Dienstanweisungen befolgen. Schließlich hatte er nur die Wahl, zu tun, was man ihm sagte, oder seinen Hut zu nehmen. Denn Agees Berufsziel war schon immer das FBI gewesen. Schon als kleiner Junge, der Räuber und Gendarm gespielt hatte. Oder Krieg. Oder Al Capone mit einer Spielzeugpistole, deren Knall er kaum hören konnte.
Man erklärte ihm, die Behörde werde ihn im Innendienst einsetzen. Bei kritischen Zwischenfällen, in der Stressbewältigung und in der Abteilung, die verdeckte Ermittler betreute. Im Grunde genommen also als psychologischer Dienstleister, insbesondere für Agents, die lange im Untergrund gelebt hatten. Auch die leitenden Special Agents und die Profiler fielen in seinen Zuständigkeitsbereich. Da die Abteilung für Verhaltensforschung noch verhältnismäßig neu sei und die Ausbildung der Mitarbeiter in den Kinderschuhen stecke, mache man sich beim FBI Gedanken über die Belastungen, die Profiler regelmäßig ertragen müssten, und frage sich, ob diese Erlebnisse das Sammeln von Geheiminformationen und die Anwendung der Ergebnisse in der Praxis beeinträchtigten. An diesem Punkt des bis dahin ziemlich einseitig verlaufenen Gesprächs hatte Agee sich bei Pruitt erkundigt, ob sich das FBI überlegt habe, schriftliche Gutachten über Straftäter anzufertigen, da er, Agee, daran mitwirken könne. Wenn man ihm Zugang zu Material wie Verhörprotokollen, psychologischen Bewertungen sowie Tatort- und Autopsiefotos und den übrigen Fallakten gewähren würde, werde er diese ordnen und analysieren und sie zu einem aussagekräftigen Datensatz zusammenführen – eine Möglichkeit also, um seine Talente unter Beweis zu stellen.
Das war zwar nicht damit zu vergleichen, einen Mörder persönlich zu verhören, aber immer noch besser, als Florence Nightingale zu spielen und Kollegen tröstend die Schulter zu tätscheln, während die tatsächliche Arbeit, die mit Befriedigung, Anerkennung und Belohnung einherging, von anderen erledigt wurde. Von Menschen, die ihm geistig unterlegen waren und die nicht annähernd seine Ausbildung, seine Intelligenz und sein Einfühlungsvermögen besaßen. Von Dummköpfen wie Benton Wesley.
»Aber natürlich braucht man die Daten nicht mehr manuell zu interpretieren, wenn man CAIN hat«, sagte Agee zu Carley, während sie in Rupe Starrs Bibliothek die Fotos betrachteten. »Anfang der Neunziger wurden das Erstellen von Statistiken und andere Sortier- und Analysevorgänge von Computern übernommen, und meine gesamte Vorarbeit floss in Lucys tolles Netzwerk für künstliche Intelligenz ein. Aber ich wurde wieder dazu verdonnert, andere Agents zu betreuen. Zu mehr war ich nach Ansicht des verdammten FBI nicht zu gebrauchen.«
»Stellen Sie sich vor, wie ich mich fühle, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten wieder einmal für eine meiner Ideen gelobt wird.« Wie immer lenkte Carley das Gespräch auf sich.
Anschließend hatte er sie durch die Villa geführt, während die übrigen Gäste einige Etagen entfernt feierten, hatte ein Gästezimmer gefunden und war mit ihr ins Bett gegangen. Dabei war er sich dessen bewusst gewesen, dass es nicht er war, der sie anzog. Es waren Sex und Gewalt, Macht und Geld und Klatsch. Danach hatte Carley genug gehabt. Doch Agee war noch nicht zufrieden gewesen. Er wollte mit ihr zusammen sein und sie für den Rest seiner Tage lieben. Als sie ihm endlich mitgeteilt hatte, er solle aufhören, ihr ständig E-Mails zu schreiben und Nachrichten zu hinterlassen, war es zu spät. Der Schaden war geschehen. Er bemerkte nicht immer, ob er belauscht wurde und wie laut er sprach. Deshalb hatte es nur eines einzigen Fehlers bedurft, einer Botschaft auf Carleys Anrufbeantworter, während seine Frau zufällig vor der geschlossenen Tür seines Arbeitszimmers stand, weil sie ihm ein Sandwich und eine Tasse Tee bringen wollte.
Es hatte das Ende seiner Ehe bedeutet. Er und Carley hielten unregelmäßigen Kontakt aus der Ferne. Doch meistens erlebte er sie nur in den Nachrichten, als sie bei verschiedenen Sendern Karriere machte. Dann, vor einem knappen Jahr, hatte er gelesen, eine Sendung mit
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