Scarpetta Factor
Meldung heute Abend bringen wollte, und zwar in Gegenwart der Gerichtsmedizinerin, die Toni obduziert hatte. Einen günstigeren Zeitpunkt konnte es gar nicht geben. Doch er war, wie immer, wenn Scarpetta in der Sendung auftrat, nicht eingeladen, denn er durfte sich weder im selben Studio noch überhaupt im selben Gebäude wie sie aufhalten. Sie weigerte sich nämlich, mit ihm vor der Kamera zu stehen, da sie ihn, laut Carley, für unseriös hielt. Vielleicht sollte Agee Scarpetta eine Lektion in Sachen Glaubwürdigkeit erteilen und gleichzeitig Carley einen Gefallen tun. Er brauchte nur einen schriftlichen Beweis.
Wie konnte er Harvey telefonisch erreichen? Welche Möglichkeit gab es, ihn in ein Gespräch zu verwickeln? Auf welchem Wege sollte er ihm die Information entreißen? Agee überlegte, ob er ihm eine zweite E-Mail schicken, ihm seine Telefonnummer mitteilen und um Rückruf bitten sollte. Aber das hätte auch nichts genützt. Agee würde sein Ziel nur erreichen, wenn Harvey die kostenlose Nummer des internetgestützten Telefondienstes für Hörbehinderte wählte. Dann hätte Harvey allerdings gewusst, dass eine dritte Partei ihn belauschte, eine Schreibkraft, die zeitgleich jedes Wort notierte. Und falls er so argwöhnisch und verstört war, wie es den Anschein hatte, würde er das niemals gestatten.
Ging die Initiative zu dem Telefonat hingegen von Agee aus, würde Harvey nicht ahnen, dass seine Aussage schwarz auf weiß festgehalten wurde. Eine Mitschrift war fast so beweiskräftig wie eine Bandaufnahme und außerdem völlig legal. Agee ging stets so vor, wenn er in Carleys Auftrag Informanten befragte, nur für den seltenen Fall, dass sich jemand beschwerte oder behauptete, er habe diese oder jene Bemerkung nie gemacht. Dann förderte Carley die Mitschrift zutage, die Agees Beitrag zu dem Gespräch aussparte und nur die Äußerungen des Informanten enthielt, was die beste Methode war. Da so niemand Agees Aussagen und Fragen kannte, konnte Carley die Antworten des Informanten nämlich nach Belieben deuten. Die meisten Leute wollten sich nur in Szene setzen. Es störte sie nicht, wenn man sie falsch zitierte, solange nur ihr Name richtig geschrieben beziehungsweise, je nach Wunsch, ihre Anonymität gewahrt wurde.
Ungeduldig tippte Agee auf die Leertaste seines Laptops, damit er wieder zum Leben erwachte, und sah nach, ob in seiner CNN-Mailbox neue Mails eingegangen waren. Nichts Wichtiges. Er hatte das alle fünf Minuten überprüft, doch Harvey antwortete einfach nicht. Das Unbehagen und die Gereiztheit steigerten sich. Er las Harveys E-Mail von vorhin noch einmal.
Sehr geehrter Dr. Agee,
ich habe Sie im Crispin Report gesehen und schreibe Ihnen nicht, weil ich dort auftreten möchte. Ich will keine Aufmerksamkeit erregen.
Ich heiße Harvey Fahley und bin Zeuge in den Ermittlungen wegen des Mordes an der Joggerin, die, wie ich gerade aus den Nachrichten erfahren habe, als Toni Darien identifiziert wurde. Heute am frühen Morgen bin ich mit dem Wagen auf der Hundred-tenth Street am Central Park vorbeigefahren und bin sicher, beobachtet zu haben, wie sie aus einem gelben Taxi gezerrt wurde. Inzwischen habe ich den Verdacht, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Nur wenige Minuten später wurde ihre Leiche gefunden.
Auch Hannah Starr wurde zuletzt in einem gelben Taxi gesehen.
Ich habe eine Aussage bei der Polizei gemacht, und eine Ermittlerin namens L. A. Bonnell teilte mir mit, ich dürfe mit niemandem über den Fall sprechen. Da Sie forensischer Psychiater sind, glaube ich, darauf vertrauen zu können, dass Sie meine Informationen diskret und vertraulich behandeln werden.
Nun frage ich mich besorgt, ob man die Öffentlichkeit nicht warnen sollte, denke jedoch, dass mir das nicht zusteht. Außerdem könnte ich es gar nicht, weil ich mir sonst Ärger mit der Polizei einhandeln würde. Aber wenn noch eine Frau verletzt oder getötet würde, würde ich mich entsetzlich schuldig fühlen. Ich habe jetzt schon ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht angehalten habe. Anstatt einfach weiterzufahren, hätte ich stoppen und nach der Frau sehen sollen. Wahrscheinlich war es schon zu spät, doch was, wenn sie noch gelebt hat? Die Sache bedrückt mich wirklich. Ich weiß nicht, ob Sie Privatpatienten behandeln. Es könnte nämlich sein, dass ich mit jemandem über mein Erlebnis sprechen muss.
Ich bitte Sie, diese Informationen so zu behandeln, wie Sie es für richtig halten, allerdings niemandem zu
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