Scarpetta Factor
von uns.« Damit meinte sie die B-Liste.
»Ist sie nicht. Sie könnte diese Villa aus der Portokasse bezahlen.«
»Wer zum Teufel ist sie?«
»Lucy Farinelli.« Agee entdeckte ein weiteres Foto, das Lucy in Starrs Kellergarage am Steuer eines Duesenberg zeigte. Sie wirkte, als würde sie keine Sekunde zögern, diesen unbezahlbaren antiken Sportwagen zu fahren. Vielleicht tat sie es ja auch hin und wieder, nachdem sie Starr ihr Vermögen aufgelistet hatte.
Agee wusste es nicht, denn er war noch nie gleichzeitig mit Lucy bei Starr eingeladen gewesen, und zwar aus dem simplen Grund, dass sie ihn sicher nicht als unterhaltsam empfinden würde. Sie würde sich höchstens aus ihrer Zeit in Quantico an ihn erinnern, wo sie als High-School-Wunderkind an der Entwicklung und Programmierung des Criminal Artifact Intelligence Network, in der Behörde nur CAIN genannt, beteiligt gewesen war.
»Gut, dieser Name sagt mir etwas.« Carley merkte auf, sobald ihr klar wurde, dass Lucy Verbindungen zu Scarpetta und insbesondere zu Benton Wesley mit seinen markanten, wie in Granit gemeißelten Zügen hatte. Mit ihren Worten »das Vorbild für den Schauspieler in Das Schweigen der Lämmer «.
»Wie heißt noch mal der Typ, der Crawford gespielt hat?«
»So ein Schwachsinn. Benton war nicht einmal in Quantico, als der Film gedreht wurde, sondern hat irgendwo draußen in einem Fall ermittelt. Der arrogante Mistkerl gibt es sogar selbst zu«, entgegnete Agee. Seine Erregung lag nicht nur daran, dass er verärgert war, sondern hatte auch andere Gründe.
»Sie kennen diese Leute.« Sie war beeindruckt.
»Die ganze verdammte Bande. Aber sie nehmen mich nicht zur Kenntnis. Ich bin nicht mit ihnen befreundet. Insbesondere nicht mit Benton, der ziemlich viel über mich weiß. Eine tragische Geschichte, wie sie das Leben schreibt: Benton vögelt Kay. Kay liebt Lucy. Benton besorgt Lucy einen Praktikumsplatz beim FBI. Und Warner schaut in Röhre.«
»Wo liegt der Zusammenhang?«
»Was ist künstliche Intelligenz?«
»Ein Ersatz für echte«, erwiderte sie.
»Wissen Sie, mit diesen Dingern hat man es nicht immer leicht.« Er tippte auf seine Hörgeräte.
»Sie verstehen mich doch offenbar ausgezeichnet. Deshalb habe ich keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Ich sage nur so viel, dass man mir vielleicht einige Aufgaben zugeteilt und mir Möglichkeiten eröffnet hätte, wenn da nicht plötzlich ein Computerprogramm gewesen wäre, das sie an meiner Stelle erledigen konnte«, erklärte er.
Es konnte am Wein, einem sehr guten Bordeaux, gelegen haben, dass er Carley von dem Undank und den Ungerechtigkeiten erzählt hatte, die er im Laufe seines Berufslebens hatte erdulden müssen. Von dem Tribut, den die Umstände von ihm gefordert hatten. Von Menschen und ihren Problemen. Von Polizisten, dem Druck, unter dem sie standen, und ihren traumatischen Erlebnissen. Und das Schlimmste daran sei, dass man Mitarbeitern des FBI keine Schwäche durchgehen ließe. Sie dürften keine Menschen sein, denn das FBI müsse bei ihnen stets an erster Stelle kommen. Deshalb seien sie gezwungen, von der Behörde ausgewählten Psychiatern oder Psychologen ihr Herz auszuschütten, würden als Babysitter und zum Händchenhalten missbraucht, und niemand zöge sie in Kriminalfällen zu Rate, selbst wenn diese Schlagzeilen machten. Um Carley zu verdeutlichen, was er meinte, schilderte er ihr einen Vorfall an der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, im Jahr 1985, als ein stellvertretender Direktor namens Pruitt Agee mitgeteilt hatte, ein Gehörloser könne keine Vernehmung in einem Hochsicherheitsgefängnis durchführen.
Einen forensischen Psychiater, der Hörgeräte trüge und von den Lippen abläse, zu beauftragen, berge gewisse Risiken. Und um ehrlich zu sein, werde die Behörde niemanden beschäftigen, der einen Gewaltverbrecher womöglich missverstand oder ihn ständig auffordern musste, etwas zu wiederholen. Und was war, wenn der Beschuldigte seinerseits Agee nicht richtig verstehen konnte? Was, wenn er sein Verhalten falsch deutete, zum Beispiel die Art, wie er die Beine übereinanderschlug oder den Kopf neigte? Was, wenn ein paranoider Schizophrener, der gerade eine Frau zerstückelt und ihr die Augen ausgestochen hatte, es nicht mochte, wenn Agee auf seine Lippen starrte?
Da hatte Agee gewusst, was er für das FBI war und immer bleiben würde: ein Behinderter. Jemand, dem man vieles nicht zutraute. Ein Mensch, dem es an Durchsetzungskraft gebrach. Niemand
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