Scarpetta Factor
andere Beweise als DNA. Sie kann niemals eine gründliche Ermittlung ersetzen.«
»Liebe Zuschauer, Sie haben es selbst gehört!« Carleys Gesicht, mit Kollagen aufgespritzt und von Botox gelähmt, füllte den Bildschirm. »DNA ist unwichtig.«
»Ich wiederhole noch einmal, dass ich das nicht gesagt habe.«
»Lassen Sie uns offen sein, Dr. Scarpetta. DNA ist wichtig. Sie könnte sich sogar als das ausschlaggebende Beweismittel im Fall Hannah Starr erweisen.«
»Carley ...?«
»Ich werde Sie nicht danach fragen.« Carley unterbrach sie mit einer Handbewegung und wechselte die Taktik. »Ich habe Hannah Starr nur als Beispiel erwähnt. Mit Hilfe von DNA könnte man beweisen, dass sie tot ist.«
Die Studiomonitore zeigten das Foto von Hannah Starr, das schon seit Wochen in den Nachrichten zu sehen war. Barfuß und wunderschön in einem tief ausgeschnittenen weißen Sommerkleid auf einem Gehweg vor einem Strand. Auf ihren Lippen stand ein wehmütiges Lächeln. Im Hintergrund waren Palmen und ein blau schillerndes Meer zu erkennen.
»Zu diesem Schluss sind viele Menschen in Kriminalistenkreisen gekommen«, fuhr Crispin fort. »Auch wenn Sie es nicht in der Öffentlichkeit zugeben wollen. Indem Sie sich vor der Wahrheit drücken« – nun wurde ihr Tonfall anklagend –, »öffnen Sie gefährlichen Theorien Tür und Tor. Sollten wir nicht erfahren, ob sie tot ist? Sollte Bobby Fuller, ihr bedauernswerter Ehemann, es nicht wissen? Sollte man nicht mit offiziellen Ermittlungen beginnen und ein paar Haftbefehle ausstellen?«
Inzwischen zeigten die Monitore ein anderes Bild, das ebenfalls schon seit Wochen im Umlauf war: Bobby Fuller, die gebleichten Zähne zu einem Grinsen gebleckt und in Tenniskleidung am Steuer seines vierhunderttausend Dollar teuren roten Porsche Carrera GT.
»Ist es nicht richtig, Dr. Scarpetta«, hakte Carley nach, »dass man mit DNA theoretisch den Tod eines Menschen nachweisen könnte? Zum Beispiel, wenn Ihnen ein an einem beliebigen Ort, etwa in einem Fahrzeug, sichergestelltes Haar vorläge?«
»Mit Hilfe von DNA den Tod eines Menschen nachzuweisen ist unmöglich«, entgegnete Scarpetta. »DNA dient der Identitätsfeststellung.«
»Also könnte die DNA uns verraten, ob die in einem Fahrzeug gefundenen Haare von Hannah stammen.«
»Kein Kommentar.«
»Und wenn diese Haare Anzeichen von Verwesung zeigen?«
»Ich kann nicht über diesen Fall sprechen.«
»Können oder wollen Sie nicht?«, gab Carley zurück. »Was versuchen Sie uns hier zu verheimlichen? Ist es womöglich die unangenehme Wahrheit, dass Experten wie Sie sich, was Hannah Starrs Schicksal angeht, geirrt haben könnten?«
Wieder erschien ein altbekanntes Foto auf den Monitoren: Hannah in einem Kostüm von Dolce & Gabbana, das lange blonde Haar hochgesteckt und eine Brille auf der Nase, saß an einem Biedermeierschreibtisch in einem Eckbüro mit Blick auf den Hudson.
»Vielleicht hat ihr tragisches Verschwinden ja ganz andere Gründe, als alle, einschließlich Sie, angenommen haben.« Carley fragte nicht mehr, sondern stellte Behauptungen in den Raum und hatte den Tonfall eines Anwalts im Kreuzverhör angeschlagen.
»Carley, ich bin Gerichtsmedizinerin hier in New York City. Ihnen ist doch sicher klar, warum ich ein Gespräch über dieses Thema verweigern muss.«
»Offiziell sind Sie freie Mitarbeiterin, keine Angestellte.«
»Ich bin Angestellte und dem Chief Medical Examiner von New York City rechenschaftspflichtig«, erwiderte Scarpetta.
Ein anderes Foto: Die aus den Fünfzigern stammende, aus blauem Backstein bestehende Fassade der New Yorker Gerichtsmedizin.
»Sie arbeiten ohne Bezahlung. Ich glaube, es wurde in den Nachrichten gemeldet. Sie stellen Ihre Zeit kostenlos der New Yorker Behörde zur Verfügung.« Carley wandte sich zur Kamera. »Den Zuschauern, die es vielleicht nicht wissen, möchte ich erklären, dass Dr. Kay Scarpetta Gerichtsmedizinerin in Massachusetts ist und außerdem in Teilzeit und unbezahlt am Gerichtsmedizinischen Institut hier in New York arbeitet.« Dann drehte sie sich wieder zu Scarpetta um. »Allerdings verstehe ich nicht ganz, wie Sie gleichzeitig in New York City und für das Commonwealth of Massachusetts tätig sein können.«
Scarpetta zog es vor, sie weiter darüber im Dunkeln zu lassen.
Carley griff nach einem Stift, als wolle sie sich Notizen machen. »Dr. Scarpetta, allein Ihre Weigerung, über Hannah Starr zu sprechen, beweist doch schon, dass Sie sie für tot halten. Wenn
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