Scarpetta Factor
und wählte sich mit dem Laptop in den internetgestützten Telefondienst ein. Nachdem er in der oberen Menüleiste Eingegangene Telefonate angeklickt hatte, gab er seine Telefonnummer in Washington ein. Mit dem Einwegtelefon wählte er die kostenlose Nummer des Telefondienstes und wurde nach einem Piepton aufgefordert, die zehnstellige Nummer einzutippen, die er anrufen wollte. Als er fertig war, ertönte ein erneutes Signal.
Das Einwegtelefon in der rechten Hand rief das Motorola in der linken an. Es läutete. Agee nahm das Gespräch an und hielt sich das Gerät ans Ohr.
»Hallo?«, meldete er sich mit seiner normalen dunklen Stimme, die angenehm und beruhigend klang.
»Ich bin es, Harvey.« Es war ein zittriger Tenor, die Stimme eines Menschen, der noch jung und ziemlich erschüttert war. »Sind Sie allein?«
»Ja, ich bin allein. Wie geht es Ihnen? Sie klingen ziemlich aufgebracht«, sagte Agee.
»Ich wünschte, ich hätte es nie gesehen.« Die Stimme bebte, der Mann schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Verstehen Sie? Ich wollte nicht Zeuge von so etwas und in die Sache verwickelt werden. Ich hätte anhalten und helfen sollen. Was, wenn sie noch gelebt hat, als ich mitgekriegt habe, wie sie aus dem gelben Taxi gezerrt wurde?«
»Beschreiben Sie mir genau, was Sie beobachtet haben.«
Agee schlug wieder einen vernünftigen und beschwichtigenden Ton an und spielte die Rolle des Psychiaters und wechselte die Telefone von einer Hand in die andere, während eine Schreibkraft gleichzeitig jedes Wort des Selbstgesprächs notierte. Er war dieser Person nie begegnet und kannte sie nur als Telefonist Nummer 5622. Dicke schwarze Buchstaben erschienen in dem Fenster des Web-Browsers auf Agees Computerbildschirm. Er telefonierte weiter mit verstellter Stimme mit sich selbst und durchsetzte das Telefonat mit Nuscheln und Hintergrundgeräuschen, sodass es sich anhörte, als wäre die Verbindung gestört. Die Schreibkraft erfasste nur die Äußerungen des angeblichen Harvey Fahley.
»... Als die Ermittlerin mit mir geredet hat, erwähnte sie, die Polizei wisse, dass Hannah Starr tot sei, und zwar weil man Haare sichergestellt hätte. Kopfhaare, die verwest gewesen seien. (Unverständlich.) Wo? Äh, das hat mir die Ermittlerin nicht verraten. Vielleicht ist schon bekannt, dass es ein Taxifahrer war, weil Hannah doch gesehen wurde, wie sie in ein Taxi stieg. Es könnte sein, dass die Polizei noch viel mehr weiß, es jedoch für sich behält, weil es negative Folgen für die Stadt haben könnte. Ja, genau. Geld. (Unverständlich.) Aber wenn Hannahs verwestes Kopfhaar in einem Taxi gefunden wurde und man die Information geheim hält (unverständlich), wäre das verhängnisvoll. (Unverständlich.) Hören Sie, die Verbindung bricht ab. (Unverständlich.) Außerdem sollte ich sowieso nicht mit Ihnen reden. Ich habe große Angst. Ich muss jetzt auflegen.«
Warner Agee beendete das Gespräch, markierte den Text, kopierte ihn und überspielte ihn in sein Textverarbeitungsprogramm. Dann fügte er ihn als Anlage einer E-Mail hinzu, die in wenigen Sekunden auf Carleys iPhone eingehen würde.
Carley:
Im Anhang findest du die Mitschrift von Informationen, die mir ein Zeuge gerade in einem Telefoninterview gegeben hat. Wie immer: Nicht für die Veröffentlichung bestimmt, da wir die Anonymität meines Informanten wahren müssen. Ich schicke dir die Mitschrift nur, damit du etwas in der Hand hast, falls der Sender Schwierigkeiten bekommt. – Warner
Er drückte auf Senden .
Das Studio von The Crispin Report erinnerte an ein Schwarzes Loch. Schwarze Schallisolierung, ein schwarzer Tisch und schwarze Stühle auf einem schwarzen Boden unter einer schwarz lackierten Scheinwerfertraverse. Scarpetta vermutete, dass man auf diese Weise eine nüchterne Atmosphäre schaffen wollte, um den hier verbreiteten Nachrichten mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Eigentlich stand CNN ja genau für diese Seriosität, die Carley Crispin allerdings nicht zu bieten hatte.
»DNA ist nicht der Weisheit letzter Schluss«, sprach Scarpetta live in die Kamera. »Manchmal spielt sie nicht einmal eine Rolle.«
»Das erschreckt mich aber.« Carley, deren grellrosa Kleid sich mit ihrem kupferroten Haar biss, war heute Abend ungewöhnlich hektisch. »Die angesehenste Forensikerin hält DNA für unwichtig?«
»Das habe ich nicht gesagt, Carley. Ich möchte nur auf das hinaus, was ich schon seit zwei Jahren predige: Es gibt auch noch
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