Scarpetta Factor
Marino.
»Sie haben ein verdächtiges Paket nach oben gebracht? Aber warum denn? Wozu beschäftigen wir einen Wachdienst?«, empörte sich Judy.
»Wahrscheinlich ist es falscher Alarm. Wir wollen nur auf Nummer sicher gehen«, erwiderte Scarpetta beruhigend.
»Bist du schon in der Polizeizentrale? Nun, verschieb das auf später«, sagte Benton zu Marino und fügte hinzu, es bestehe die Möglichkeit, dass jemand Scarpetta eine Paketbombe geschickt hatte.
»Wahrscheinlich hat jemand wie Sie ständig mit allen möglichen Verrücken zu tun.« Judy zog einen knöchellangen Mantel an, geschorener Chinchilla mit ausgestellten Ärmeln. Ihr Hund sprang auf und ab und kläffte immer hektischer, als Judy die Leine von einer Etagere aus dem Holz des Grünlilienbaums nahm.
Benton beugte sich vor und zog mit einer Hand seine Stiefel an, während er weitertelefonierte. »Nein, bei einer Nachbarin. Wir wollten unser Telefon nicht benutzen, um kein elektronisches Signal auszulösen, solange wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben. Angeblich wurde es von FedEx gebracht. Auf dem Couchtisch. Wir gehen jetzt runter.«
Er legte auf. Judy geriet ins Schwanken, als sie sich bückte, um die Leine in das dazu passende Halsband des Pudels einzuhaken. Es bestand aus blauem Leder, die Schließe stammte von Hermès. Wahrscheinlich war der Name des neurotischen Hundes eingraviert. Sie verließen die Wohnung und traten in den Aufzug. Der süßlich-scharfe chemische Geruch von Dynamit stieg Scarpetta in die Nase. Eine Halluzination. Es war unmöglich, dass sie Dynamit roch. Hier war kein Dynamit.
»Riechst du etwas?«, fragte sie Benton.
»Überhaupt nichts«, erwiderte er.
»Vielleicht mein Parfüm.« Judy schnupperte an ihren Handgelenken. »Ach, Sie meinen, dass es stinkt. Hoffentlich hat man Ihnen kein Anthrax, oder wie das Zeug heißt, geschickt. Warum haben Sie es mit nach oben genommen? Das war rücksichtslos gegenüber der Nachbarschaft.«
Scarpetta bemerkte, dass sie ihre Handtasche in der Wohnung vergessen hatte. Sie stand auf dem Tisch neben der Wohnungstür. Ihre Brieftasche und alle ihre Ausweise befanden sich darin, und die Tür war nicht abgeschlossen. Außerdem wusste sie nicht, was aus ihrem BlackBerry geworden war. Sie hätte das Paket überprüfen sollen, bevor sie es nach oben brachte. Was zum Teufel war nur los mit ihr?
»Marino ist unterwegs hierher, wird aber nicht vor den anderen da sein«, sagte Benton. Er sparte sich die Mühe, Judy zu erklären, wer Marino war. »Er ist gerade im Polizeipräsidium, in der Notfalleinsatzzentrale.«
»Warum?« Scarpetta beobachtete, wie die Etagen an ihnen vorbeiglitten.
»Real Time Crime Center. Um ein paar Daten zu recherchieren. Zumindest war das der Plan.«
»Wenn das hier eine Genossenschaft wäre, hätte ich gegen Sie gestimmt«, wandte Judy sich an Scarpetta. »Sie sprechen im Fernsehen über all die schrecklichen Verbrechen, und schauen Sie, was passiert. Sie bringen diese Dinge mit nach Hause und gefährden Ihre Nachbarn. Leute wie Sie ziehen Spinner an.«
»Nun, ich hoffe, dass es ein falscher Alarm ist, und entschuldige mich dafür, dass ich Ihnen Angst gemacht habe. Und Ihrem Hund«, sagte Scarpetta.
»Dieser Aufzug ist so verdammt langsam. Ganz ruhig, Fresca. Sie wissen ja, wie viel sie bellt. Aber sie würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Wo soll ich eigentlich hin? Ins Foyer? Ich habe nicht vor, die ganze Nacht im Foyer zu verbringen.«
Judy starrte mit missbilligender Miene auf die Messingtüren des Aufzugs. Benton und Scarpetta schwiegen. Bilder und Geräusche, an die sie schon seit einer Weile nicht mehr gedacht hatte, stiegen in Scarpetta hoch. Damals in den späten Neunzigern hatte ihr Leben eine tragische Wendung genommen. Vor vielen Jahren, in ihrer Zeit bei der ATF, der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen. Sie war tief über struppige Nadelbäume und Sand geflogen, der aussah wie Schnee, während der Rotor des Helikopters mit einem rhythmischen Klappern die Luft durchschnitt. Metallgraue Wasserflächen schlugen im Fahrtwind Wellen, und aufgeschreckte Vögel stoben im Dunst auseinander wie Pfefferkörner. Sie waren unterwegs zu dem alten Flugplatz in Glynco, Georgia, wo sich die Sprenggruben der ATF, die Häuser zum Simulieren von Razzien, die Betonbunker und die Brennkammern befanden. Scarpetta hatte die Lehrgänge zum Verhalten nach einer Explosion nicht gern unterrichtet und im Anschluss an das Feuer in Philadelphia damit aufgehört.
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