Scarpetta Factor
sollen.«
»Hierher? Wissen sie, was passiert ist?« Scarpetta wollte nicht, dass ihre Nichte in dieses Chaos hineinplatzte.
In ihrem früheren Leben als Special Agent und lizenzierte Brandermittlerin bei der ATF, der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, hatte Lucy ständig mit Sprengstoffen und Fällen von Brandstiftung zu tun gehabt. Es lag ihr im Blut, denn sie hatte ein Händchen für alles Technische und Riskante. Je mehr ihre Kollegen auf Abstand gingen oder an einer Aufgabe scheiterten, desto eifriger stürzte sie sich darauf, um ihre Überlegenheit zu beweisen. Durch ihre Begabung und ihren Arbeitseifer machte sie sich nicht viele Freunde. Sie war zwar inzwischen über dreißig und diplomatischer geworden, stand allerdings noch immer mit gesellschaftlichen Umgangsformen, dem Anerkennen von Grenzen und dem Befolgen gesetzlicher Vorschriften auf Kriegsfuß. Wenn Lucy hier gewesen wäre, hätte sie sicher eine Meinung oder eine Theorie entwickelt oder eine unkonventionelle Lösung auf Lager gehabt. Und darauf verspürte Scarpetta im Moment nicht die geringste Lust.
»Ich meinte nicht hierher in diese Straße, sondern in die Stadt«, erwiderte Marino.
»Seit wann brauchen sie eine Karte, um nach Hause zu finden?«, fragte Benton vom Rücksitz aus.
»Darüber darf ich nicht reden.«
Scarpetta musterte Marinos vertrautes Profil und betrachtete dann die erleuchtete Stelle auf dem Bildschirm, der über der Mittelkonsole befestigt war. Dann drehte sie sich um und warf Benton einen Blick zu. Er starrte aus dem Fenster und beobachtete die Polizisten, die aus dem Gebäude kamen.
»Wahrscheinlich haben alle die Mobiltelefone abgeschaltet«, stellte Benton fest. »Was ist mit deinem Funkgerät?«
»Es ist nicht an«, entgegnete Marino in einem Ton, als hätte man ihm leichtsinniges Verhalten vorgeworfen.
Die Bombenentschärfungsexpertin, die den Schutzanzug und einen Helm trug, trat aus dem Haus. Sie hatte die bis zur Formlosigkeit gepolsterten Arme ausgestreckt und hielt einen gepanzerten schwarzen Bombenkoffer in der Hand.
»Offenbar haben sie beim Röntgen etwas gefunden, das ihnen nicht geheuer war«, merkte Benton an.
»Und sie haben den Android nicht eingesetzt«, fügte Marino hinzu.
»Den was?«, fragte Scarpetta.
»Den Roboter. Er hat den Spitznamen Android, und zwar wegen einer Bombenentschärferin, die Ann Droiden heißt. Manche Leute haben wirklich komische Namen. Ich habe schon Zahnärzte erlebt, die Pein, Wurzel oder Kalkstein hießen. Die Frau ist nicht nur eine gute Kraft, sondern sieht auch noch spitze aus. Alle Jungs wollen ihr an die Wäsche, wenn ihr versteht, was ich meine. Als einzige Frau beim Bombenentschärfungskommando hat sie es sicher nicht leicht. Ich kenne Ann« – als ob er zu einer Erklärung verpflichtet gewesen wäre –, »weil sie im zweiten Revier in Harlem gearbeitet hat, wo sie das TCV aufbewahren. Hin und wieder schaut sie bei ihren alten Freunden vom Notfalleinsatzkommando vorbei. Das ist nicht weit von meiner Wohnung, nur ein paar Häuserblocks. Also gehe ich ab und zu hin, trinke einen Kaffee mit den Jungs und bringe dem Boxer, den sie dort halten, ein Leckerchen. Mac ist wirklich ein verdammt netter Kerl, ein Rettungshund. Falls ich Zeit habe und alle beschäftigt sind, nehme ich Mac mit nach Hause, damit er nicht die ganze Nacht einsam auf dem Revier herumhockt.«
»Wenn sie eine Kollegin einsetzen anstatt des Roboters, heißt das, dass der Inhalt des Kartons unempfindlich gegen Erschütterungen ist«, sagte Scarpetta. »Offenbar sind sie sicher.«
»Falls das Ding auf Erschütterungen reagieren würde, könnten wir dich jetzt vom Mond abkratzen, denn du hast es schließlich mit nach oben in die Wohnung genommen«, entgegnete Marino, taktvoll wie immer.
»Es hätte auch auf der Basis eines Zeitschaltmechanismus auf Erschütterungen reagieren können«, wandte Benton ein. »Aber anscheinend doch nicht.«
Polizisten verscheuchten die Schaulustigen und sorgten dafür, dass alle einen Abstand von mindestens hundert Metern einhielten, während sich die Bombenentschärferin die Vortreppe hinuntertastete. Ihr Gesicht war hinter einem Visier verborgen. Langsam, ein wenig steif, aber erstaunlich geschickt näherte sie sich dem Lastwagen mit dem vor sich hin brummenden Dieselmotor.
»Bei den Anschlägen vom 11. September haben sie drei Kollegen verloren. Vigiano, D’Allara und Curtin. Außerdem den Bombenentschärfer Danny Richards«, sagte Marino. »Von hier
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